Der Tisch in der Energieleitwarte des Innoz scheint aus einem Science-Fiction-Film zu stammen. Auf seiner Oberfläche schießen zahllose rote Punkte und grüne Linien hin und her, es sieht aus wie ein Kampf zwischen Dreiecken, Quadraten und Kreisen. Was sich hier abzeichnet, ist allerdings keine interstellare Raumschlacht, sondern das Stromnetz der Zukunft. Fabian Reetz ist Wissenschaftler vom Innovationszentrum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel. Er nimmt einen Baustein in die Hand, der ein sogenanntes Micro-Smart-Grid symbolisiert. Als er ihn zu den anderen auf den Tisch stellt, ändert sich das dort dargestellte Bild grundlegend.
Der EUREF-Campus rund um den stillgelegten Gasometer in Berlin-Schöneberg ist Forschungszentrum, kulturelle Begegnungsstätte und Baustelle in einem. Forscher und Entwickler unterschiedlichster Fachrichtungen arbeiten hier Hand in Hand, um mit einem kleinen Stromnetz Großes zu erreichen.
Zunächst sollen Elektroautos und Büros mit Strom aus erneuerbaren Energiequellen versorgt werden. Nach einer Anlaufphase soll sich das Gebiet dann eventuell auf anliegende Wohnsiedlungen ausweiten. Überschüssiger Strom wird dem Energieversorger zur Verfügung gestellt, leicht regelbar und nur zu den Zeiten, in denen der Strom auch wirklich gebraucht wird. Das zumindest ist der Plan der Forschertruppe.
Viele Unternehmen sind an dem Projekt beteiligt. Dazu zählen unter anderem die Deutsche Bahn, die GASAG, die Netzgesellschaft Berlin-Brandenburg (NBB), das DAI-Labor der TU Berlin, das Reiner Lemoine Institut, das Forschungsprojekt Bemobility, das Innovationszentrum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (Innoz) sowie der Berliner Solarmodulhersteller und Photovoltaik-Projektierer Solon. Das Elektrotechnik-Unternehmen Schneider Electric ist ebenfalls dabei und baut nebenbei noch seine neue Deutschlandzentrale auf dem Campusgelände. Viele Köche also, die den Energiebrei verderben könnten. Bislang scheinen sich aber alle an das richtige Rezept zu halten.
Ein Campus voller Technik
Wer aus der Tür der Energieleitwarte in den Innenhof tritt, steht schon mittendrin im Experiment. In der Mitte befindet sich ein Parkplatz für 20 Elektromobile. Auf einem Batteriehäuschen dahinter thront ein mächtiges Photovoltaik-Nachführsystem. Daneben dreht sich ein Vertikalachs-Windrad geräuschlos im Wind. Aber auch sonst gibt es einiges auf dem Campus zu sehen. Insgesamt elf große Gebäude stehen hier. Darin sind Büros, Forschungseinrichtungen und haufenweise Energietechnik der beteiligten Firmen und Universitäten untergebracht. Nicht zu vergessen das Gebäude des ehemaligen Gasometers: Hier findet eine wöchentliche Fernsehshow statt, die regelmäßig für heftige Verbrauchsspitzen sorgt. Andere größere Events steigern den Energiebedarf im Gasometer in unregelmäßigeren Abständen. Leicht haben es sich die Forscher also nicht gemacht.
Die Intelligenz, die ein solches Smart-Grid aufbringen muss, besteht vor allem darin, alle Stromverbraucher, -erzeuger und -speicher so miteinander abzustimmen, dass am Ende ungefähr null rauskommt. Reicht der Strom nicht, muss der Energieversorger nachliefern, gibt es zu viel Strom, kann die Energie anderen zur Verfügung gestellt werden. Importe und Exporte sollen aber so weit wie möglich reduziert werden und im Idealfall gar nicht mehr vorkommen.
Ein Micro-Smart-Grid dürfte also nicht nur für Forscher und Hippiekommunen interessant sein. Auch Energieversorger und Netzbetreiber können von dieser Lösung profitieren. Sie müssen nicht mehr hunderte Energieverbraucher und -erzeuger einzeln ansteuern, sondern kommunizieren nur noch mit der zentralen Steuereinheit des Micro-Smart-Grid. Das erspart Arbeit, sowohl beim Steuern und Schalten als auch beim Netzausbau. Um diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen, gibt es aber noch einige Hürden zu überwinden. Viele der zum Einsatz kommenden Technologien befinden sich noch in der Entwicklung und sind oft wohl eher als Prototypen zuverstehen.
Sonne und Wind im Stadtgebiet
Bislang sind sechs Windräder auf dem Campus installiert. Fünf in windexponierter Lage und eins als Vorführobjekt am Boden. Sie sind eigentlich kaum mit den Windrädern zu vergleichen, die man aus den großen Windparks kennt. Die Vertikalachser sind wesentlich kleiner, drehen sich laut Hersteller und Fabian Reetz vom Innoz nahezu geräuschlos und sehen mit ihren senkrecht gestellten Flügeln zudem futuristischer aus.
Mit einer Maximalleistung von jeweils 1,2 Kilowatt bewegen sich die Vertikalachs-Windräder zwar auch leistungsmäßig in einer völlig anderen Liga als herkömmliche Windräder. Dafür passen sie aber in einen Vorgarten oder auf die Dächer eines Forschungscampus. „Viele Leute, die hier vorbeikommen, interessieren sich besonders für die Windräder“, sagt Reetz. „Es gibt aber nur wenige Firmen, die solche Windräder kommerziell herstellen.“ Die Forscher halten die Vertikalachser aber dennoch für eine vielversprechende Technologie mit großem Entwicklungspotenzial.
Die Technologie des Photovoltaik-Nachführsystems, das über dem Parkplatz für Elektroautos gen Himmel ragt, ist da schon wesentlich ausgereifter. Für Montage, Wartung und Betrieb ist vor allem die Berliner Solarfirma Solon verantwortlich. Zwei weitere Flachdachanlagen hat das Unternehmen noch auf umliegenden Gebäuden installiert. Insgesamt sind damit ungefähr 53 Kilowatt Photovoltaikleistung auf dem Gelände verbaut. Die Installation weiterer Anlagen ist laut Reetz durchaus denkbar.
Schwankungen ausgleichen
Wind- und Solarenergie sollen den Löwenanteil am zukünftigen Energiemix ausmachen. Beide haben aber ein altbekanntes Problem: Wenn weder der Wind weht, noch die Sonne scheint, dann gibt's auch keinen Strom. Um auch nicht-fluktuierende Energiequellen zur Verfügung zu haben, betreiben die Forscher unter anderem einen Stirling-Motor und eine biogasbetriebene Brennstoffzelle. Das Biogas wird zwar noch nicht auf demCampus hergestellt, aber auch das kann Fabian Reetz für die Zukunft nicht ausschließen.
Über eine Kraft-Wärme-Kopplungsanlage wird übrigens auch die Wärmeenergie der Brennstoffzelle genutzt. Sie leistet ungefähr ein Kilowatt elektrisch und ein Kilowatt thermisch. Die Wärmeenergie wird also in diesem Mini-Mammutprojekt ebenfalls nicht vernachlässigt. Langfristig ist sogar der Bau einer Tiefengeothermieanlage geplant. Auch darüber könnte dann rund um die Uhr sowohl elektrische als auch thermische Energie bezogen werden. Wann mit dem Bau begonnen wird, ist allerdings noch nicht ganz klar. „Es ist aber definitiv geplant“, sagt Reetz.
Ein entscheidender Bestandteil eines jeden Smart-Grid sind die Energiespeichersysteme. Auf dem Schöneberger EUREF-Campus gibt es bisher eine Bleibatterie mit einer Kapazität von etwa 150 Kilowattstunden. „Die ist aber nicht gerade State of the Art“, meint Reetz. „Deswegen planen wir nun eine zweite große Batterie, die zusätzliche Kilowattstunden liefert.“ Um welchen Batterietyp es sich handeln wird, ist noch nicht entschieden. Es könnte aber auf eine Redox-Flow-Batterie hinauslaufen. Diese würde dann bis zu 100 Kilowattstunden bereitstellen.
Elektrisch unterwegs
Eine Besonderheit auf dem Campus stellt die Mischung aus Tankstelle und Carsharing-Parkplatz für Elektroautos von eFlinkster dar. Fast an jedem Parkplatz steht die Ladesäule eines anderen Herstellers. Eine Schnellladesäule ist auch dabei. „Die wird sehr viel benutzt“, sagt Reetz. „Die Leute kommen zum Teil von weit her gefahren, um hier zu tanken. Oft stehen hier auf dem Parkplatz zwischen zehn und 20 Autos herum.“ Die Elektroautos spielen eine zentrale Rolle im Konzept des Micro-Smart- Grid. Das Besondere daran: Die Autos sind Energiespeicher und -verbraucher zugleich. Denn die Energie, die in den Lithiumbatterien der Fahrzeuge gespeichert ist, soll im Bedarfsfall auch anderen Verbrauchern zur Verfügung stehen. „Vehicle2Grid“ ist das Motto. Reetz ist Experte auf diesem Gebiet. Wichtig sei vor allem, die Batterien der Fahrzeuge nicht vollständig zu entladen. „Die Grundfunktion des Autos, also die Mobilität, muss immer erhalten bleiben. Ein Auto steht aber im Schnitt 23 Stunden am Tag ungenutzt herum. In dieser Zeit ist es sinnvoll, die im Fahrzeug vorhandenen Speicher auch für andere Zwecke zu nutzen.“
Die intelligente Verknüpfung
Nach knapp einem Jahr der Aufbauarbeit kommen auf dem EUREF-Campus inzwischen jede Menge Bauteile für ein intelligentes Stromnetz zusammen. Die Forscher arbeiten nun daran, den Intelligenzquotienten des Systems zu erhöhen. „Ein paar Kabel zusammenschrauben können viele“, meint Reetz. „Aber das dann auch wirklich auszutarieren, sämtliche Werte von jeder Ladesäule, jeder PV-Anlage, jeder Büroeinheit und so weiter, dafür bauen wir gerade die nötigen Datenbankstrukturen auf und entwickeln die entsprechenden Software-Algorithmen. Das ist eine sehr komplizierte Aufgabe.“ Um das Ziel der totalen Autarkie zu erreichen, muss das Micro-Smart-Grid wohl noch ein bisschen erwachsener werden. Ein Lernprozess, den wahrscheinlich alle intelligenten Wesen und Stromnetze anfangs durchlaufen müssen.
Was aber möglich ist, wenn das Micro-Smart-Grid erst einmal zur vollen Reife gelangt, zeigt sich, als Fabian Reetz den Baustein für das Grid auf den leuchtenden Simulationstisch in der Energieleitwarte legt: Die Erneuerbaren, die Speichersysteme und die Verbraucher kommunizieren rege miteinander, unterstützen sich gegenseitig und schaffen ein stabiles System. Die Atom- und Kohlekraftwerke stehen abseits ohne Kontakt zum Campus. Nur mit dem Energieversorger kommuniziert das Netz noch, um gelegentlich Strom einzuspeisen. Energieströme aber, die vom Energieversorger Richtung Smart-Grid fließen, gibt es am Ende praktisch nicht mehr.
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