Wie ökonomische Falschannahmen die weltweite Energiewende blockieren und zur nächsten globalen Finanzkrise führen

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Will man die Kosten für verschiedene Energieträger vergleichen, kommt man um einen Wert nicht herum, LCOE, levelized cost of energy oder auf deutsch, die Stromgestehungskosten. Sie zeigen an, wie teuer oder eben günstig beispielsweise die Produktion von einer Megawattstunde (MWh) Kohle- oder Solarstrom ist über einen längeren Zeitraum beispielsweise 20 Jahre oder länger.

Entlang dieser Stromgestehungskosten wurde und wird bis heute für oder gegen Erneuerbare argumentiert. Meist heißt es, die erneuerbaren Energien seien noch zu teuer, vor allem in Kombination mit Speichern und ein neues Gaskraftwerk beispielsweise günstiger. Doch wie nun ein neuer Report des US-amerikanischen Thinktanks RethinkX zeigt, werden die LCOEs konventioneller Energieträger – allen voran Kohle, Erdgas und Atomenergie – bis heute oftmals zu niedrig angesetzt beziehungsweise liegen weitaus höher als oftmals angenommen. Hauptgrund ist die Annahme, dass fossile und atomare Stromerzeugung langfristig, also über Jahrzehnte mit voller Auslastung betrieben werden könnten. Doch genau das ist, wie sich vielfach schon heute zeigt, wegen dem Ausbau der Erneuerbare Energien schlicht falsch. Diese Fehlannahmen gelten für die Analysen und Forecasts der Internationalen Energieagentur (IEA), die US Energy Information Administration (EIA), die internationale Organisation für erneuerbare Energien (IRENA) und viele, viele andere. Der Leiter von RethinkX, Tony Seba, gehörte zu den Initiatoren der gemeinsamen Erklärung der Global 100% Renewable Energy Strategy Group.

Warum ist das entscheidend für die Zukunft des Energiesystems? Die LCOE sind eine entscheidende Grundlage für Investitionen in die Energieinfrastruktur, an der sich viele Politiker, Unternehmen, Investor orientieren, vor allem wenn die Zahlen von Regierungs-Organisationen wie der IEA oder EIA kommen.

Warum wurden und werden diese LCOEs für fossile und atomare Kraftwerke niedriger angesetzt als sie eigentlich sind? Viele Analysten setzen die Anzahl der jährlichen Volllaststunden von fossilen und atomaren Kraftwerken zu hoch an, einfach gesprochen: Es wird angenommen, dass eine Anlage über die nächsten Jahrzehnte hinweg die volle mögliche Zeit im Jahr auch tatsächlich ausgelastet ist (sogenannte Volllaststunden). Dann sinken die Kosten pro produzierte Energieeinheit, je höher die Auslastung ist bei gleich bleibenden Fixkosten. Nun stellt die Studie aber fest, dass in der Vergangenheit schon die ursprünglich angenommene Auslastung höher war als die Auslastung im dann laufenden Betrieb, dementsprechend liegen die „reellen“ LCOE höher als ursprünglich angenommen.

Die Auslastung der Anlagen widerspiegelnden Kapazitätsfaktoren sind in der Realität aber keinesfalls feste Größen. Die Kapazitätsfaktoren geben an, wie viele Stunden die Anlagen pro Jahr tatsächlich laufen, in Bezug auf die angenommenen Volllaststunden. Die Kapazitätsfaktoren sind aber Ergebnis der Gewinnmaximierung auf den Märkten. Je stärker klimafreundliche Erneuerbaren-Energien-Anlagen wie Wind und Sonne auf den Markt drängen und je teurer fossile und nukleare Energieträger beispielsweise auch durch CO2-Preise werden, desto stärker sinken die Auslastungen und damit die Kapazitätsfaktoren. Das heißt, die teuren Erdgas- und Kohleanlagen sowie Kernkraftwerke werden schlicht immer weniger genutzt und die Investitionen müssen sich in immer weniger Stunden im Jahr finanzieren, so dass die Kapitalkosten je produzierter Energieeinheit (zum Beispiel Megawattstunde) immer stärker wachsen. Gleichzeitig können aber die Preise für Strom aus fossilen und atomaren Kraftwerken nicht im notwendigen Maße erhöht werden, wie es eine Rentabilität erfordern würde, da die erneuerbare Energien wesentlich billiger Strom produzieren.

Diese falschen Annahmen lassen konventionelle Energieanlagen viel attraktiver erscheinen, als sie tatsächlich sind und haben so Milliardensummen an Fehlinvestitionen mit ständiger Abwertung der entsprechenden Finanzindizes und Aktienwerte ausgelöst, alleine in den USA sind es 2,2 Billionen US-Dollar. Ergebnis ist nicht nur die Verschwendung von privaten und öffentlichen Finanzmitteln, sondern ein damit einhergehendes reales Risiko für die Stabilität der weltweiten Finanzmärkte. Zudem wird der Klimaschutz behindert, da so eine künstliche Lebensverlängerung klimaschädliche Kraftwerke einhergeht.

Wie schwerwiegend die Unterschiede in der angenommenen und reellen Auslastung beziehungsweise Kapazitätsfaktoren sind und werden wird, macht die RethinkX-Report deutlich: Die in der Studie neu berechneten LCOE für Kohle lagen schon 2015 50 Prozent über den von der EIA angenommenen, 2020 waren sie schon 3-mal höher und bis 2030 werden die „realen“ LCOE neunmal höher sein als von der EIA angegeben. Ähnliches gilt für Erdgas und Atomenergien, hier liegen die Werte bei 60 Prozent (2020) und 5-mal (2030) bzw. 175 Prozent (2020) und 13-mal (2030). Der Bericht stellt fest: „Ohne entsprechende Anpassung werden unrealistische LCOE-Zahlen weiterhin zu Überinvestitionen in konventionellen Strom führen.“

Die Autoren gehen sogar noch weiter: “Die EIA, die IEA und andere Analysten spielen eine entscheidende Rolle bei der Fehlbewertung der Wirtschaftlichkeit konventioneller Energieanlagen, die der Rolle entspricht, die die Rating-Agenturen bei der Fehlbewertung von Subprime-Hypothekenanlagen gespielt haben, die zur Immobilienblase und globalen Finanzkrise im Jahr 2007 geführt haben.“ Diese Entwicklungen können also zu einer ähnlich verheerenden Finanz- und darauffolgenden globalen Wirtschaftskrise führen wie im Jahre 2009, mit all den miteinhergehenden dramatischen Folgen.

Besagte Studie bezieht sich vor allem auf die USA, aber diese Annahmen treffen ähnlich auch auf Deutschland und den Rest der Welt zu. Nach ersten Berechnungen der Energy Watch Group lagen bspw. die LCOE der deutschen fossilen Kraftwerke im Jahr 2018 bei 73,5 Euro (Erdgas), 72 Euro (Steinkohle) und 41 Euro (Braunkohle) pro Megawattstunde bei einem Kapazitätsfaktor von 32, 35 und 77 Prozent. Nähme man jetzt noch einen CO2-Preis von 50 Euro pro Tonne an, dann lägen die Kosten schon bei 90,5, 122 und 101 Euro, die sogenannten LSCOE (levelized social costs of energy). Im Falle eines Preises auf Methan läge Erdgas sogar noch weit über 90 Euro. Wenn man damit vergleicht, dass die LCOE von Windkraft und Solaranlagen schon heute deutlich unter 50 Euro liegen, dann kann man ahnen wohin die jetzigen Investitionen und Subventionen beispielsweise in neue Erdgaskraftwerke führen wird.

Fazit: Insbesondere heutige wie erst recht neue Investitionen in Stromerzeugung aus Erdgas, Kohle und Atomkraft führen noch in diesem Jahrzehnt zu vielen Insolvenzen der Betreiber. Gleichzeitig werden Milliarden an Steuergelder verschwendet, mit welchen selbst heute noch diese Investitionen subventioniert werden.

Das Schlimmste ist: Die Erdüberhitzung wird so noch weiter angefacht und gleichzeitig führt dies schnurstracks in eine globale Finanz- und Wirtschaftskrise, die womöglich heftiger ausfallen wird als die durch die Lehman-Pleite ausgelöste in 2009.

Verantwortungsvolle Analysten müssten dies längst erkennen, um Politiker zu warnen. Ausweg wäre eine klare politische Agenda für 100 Prozent Erneuerbare bis 2030. Doch die fossile und atomare Wirtschaft verschließt hiervor einfach die Augen und will es mit dem Festhalten an ihre alten Wirtschaftsmodelle nicht erkennen, genauso wie große Teile der Politik. So bleibt bei weiterer fehlender Umkehr in eine Politik für 100 Prozent erneuerbare Energien nur der drohende Untergang der menschlichen Zivilisation durch eine unerträgliche Temperatur auf dem Planeten, gepaart mit einer katastrophalen Weltwirtschaftskrise.

— Der Autor Hans-Josef Fell saß für die Grünen von 1998 bis 2013 im Deutschen Bundestag. Der Energieexperte war im Jahr 2000 Mitautor des EEG. Nun ist er Präsident der Energy Watch Group (EWG). Mehr zu seiner Arbeit finden Sie unter www.hans-josef-fell.de. —

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