Fraunhofer ISE: Klimaneutrales Energiesystem in Deutschland bis 2050 auf verschiedenen Wegen möglich

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Mit dem versprochenen europäischen „Green Deal“ wird immer wahrscheinlicher, dass auch Deutschland bei seinen Klimaschutzbemühungen nachlegen muss. Eine Einsparung von 95 bis 100 Prozent der energiebedingten CO2-Emissionen in Deutschland werden notwendig sein, um bis 2050 ein klimaneutrales Europa zu erreichen. Das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE hat dazu die Studie „Wege zu einem klimaneutralen Energiesystem – Die deutsche Energiewende im Kontext gesellschaftlicher Verhaltensweisen“ am Donnerstag in Berlin vorgestellt. Die gute Nachricht: Die Klimaschutzziele in der Energieversorgung sind auf Basis erneuerbarer Energien technisch und systemisch machbar. Abhängig vom gesellschaftlichen Verhalten können die Kosten für den notwendigen Systemumbau allerdings variieren.

Das Fraunhofer ISE hat vier verschiedene Hauptszenarien für seine Studie entwickelt, die von einer Reduktion der energiebedingten CO2-Emissionen von 95 Prozent bis 2050 im Vergleich zu 1990 ausgehen. Das Referenzszenario geht davon aus, dass die Ziele der Energiewende weder gefördert noch erschwert wird und somit eine rein mathematische Berechnung vornimmt, wie Hans-Martin Henning, Leiter des Instituts, bei der Vorstellung der Studie erklärte. Dieses ist mit den Szenarien „Beharrung“, „Inakzeptanz“ und „Suffizienz“ abgeglichen worden. Diese gehen von unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhaltensweisen in den kommenden 30 Jahren aus. Beim Szenario „Beharrung“ ist einkalkuliert, dass starke Widerstände gegen neue Techniken bei Privathaushalten vorherrschen. Dies führt dazu, dass weiterhin Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren oder Gaskessel im Heizungsbereich den Markt dominieren. Im Szenario „Inakzeptanz“ wiederum ist einkalkuliert, dass aufgrund großer gesellschaftlicher Widerstände der Windkraft- und Netzausbau geringer ausfallen werden. Im Szenario „Suffizienz“ gehen die Freiburger Wissenschaftler dagegen davon aus, dass es aufgrund veränderter Verhaltensweisen zu einer deutlichen Senkung des Energieverbrauchs kommen wird und gleichzeitig erhöhte Flexibilitätsoptionen entstehen werden.

Für die Simulation und Optimierung der Szenarien sei das am Fraunhofer ISE entwickelte Energiesystemmodell Regenerative Energien Modell (REMod) genutzt worden. Es erlaube eine stundenscharfe Betrachtung der Modelle bis zum 31. Dezember 2050, so Henning weiter. Die Ergebnisse zeigten, dass trotz eines sehr hohen Anteils fluktuierender erneuerbarer Energien für die Strombereitstellung in jeder Stunde und in allen Verbrauchssektoren eine sichere Versorgung erreicht werden könne.

Andreas Bett, der gemeinsam mit Henning das Frauhofer ISE leitet, verweist jedoch auf den steigenden Bedarf an Photovoltaik und Windkraft. Die Ergebnisse zeigen, dass die Erneuerbaren zur wichtigsten Primärenergie werden. Doch aufgrund der Sektorkopplung sei mit einem stark steigenden Strombedarf zu erreichen – etwa 2 bis 2,5-mal mehr als derzeit. Die installierte Leistung von Windkraft- und Photovoltaik-Anlagen müsse daher um einen Faktor vier bis sieben im Vergleich zur heute installierten Gesamtleistung ansteigen.

Im Szenario „Inakzeptanz“ kommt der Photovoltaik dabei eine besonders große Bedeutung zu. Der Widerstand gegen Windkraftanlagen und Netzausbau lasse sich teilweise durch einen modifizierten Ausbaupfad mit einem stärkeren Zuwachs an Photovoltaik-Anlagen und einer größeren Kapazität an Batteriespeichern kompensieren, sagt Bett. Die Nettomehraufwendungen der untersuchten Szenarien über die nächsten 30 Jahre im Vergleich mit dem Referenzszenario liegen dem Fraunhofer ISE dabei zwischen 440 Milliarden Euro für das Szenario „Suffizienz“ und 2330 Milliarden Euro für das Szenario „Beharrung“. Das Szenario „Inakzeptanz“ liegt dazwischen. Die Rechnungen zeigten auch, dass sich die CO2-Vermeidungskosten in den kommenden Jahren erhöhen würden. Zunächst werden wahrscheinlich die „low hanging fruits“ realisiert, doch gegen Ende stünden dann die schwierigen Parts an, wobei die eingesparten CO2-Emissionen immer geringer würden.

Das Fraunhofer ISE hat auch die CO2-Vermeidungskosten für die einzelnen Szenarien ermittelt. Für das „Referenz“-Szenario liegen sie im Mittel bei rund 150 Euro pro Tonne CO2. Die Kosten variieren jedoch stark in den kommenden drei Jahrzehnten. Sie steigen von rund 50 Euro pro Tonne CO2 im Zeitraum 2021 bis 2030 über 142 Euro pro Tonne in den Jahren 2031 bis 2040 auf knapp über 180 Euro pro Tonne im Jahrzehnt bis 2050 an. Die mittleren Werte über den Gesamtzeitraum liegen beim „Suffizienz“-Szenario mit 50 Euro pro Tonne CO2 deutlich niedriger und mit mehr als 230 Euro pro Tonne im Szenario „Beharrung“ am höchsten.

CO₂-Vermeidungskosten aller sechs untersuchten Szenarien. Es sind jeweils Mittelwerte für die Jahre 2021-2030, 2031-2040 und 2041-2050 dargestellt sowie der Mittelwert für den gesamten Betrachtungszeitraum 2021-2050.

Grafik: Fraunhofer ISE

Der Großteil der Mehraufwendungen – je nach Szenario variiert dieser Wert zwischen 63 und 75 Prozent – entfalle auf Investitionen, so die Forscher weiter. Damit sei auch klar, dass die Kosten nach Abschluss des Systemumbaus 2050 erheblich sinken würden. Eine Grundvoraussetzung für eine möglichst kostengünstige Energiewende sei, dass alle Technologien zur Wandlung, Speicherung, Verteilung, Nutzung und zur Systemintegration erneuerbarer Energien kontinuierlich weiterentwickelt und in den Markt gebracht würden.

Zugleich halten die Freiburger Wissenschaftler auch den Aufbau einer Wasserstoffinfrastruktur für notwendig. Wobei sie in ihren Szenarien auch davon ausgehen, dass der grüne Wasserstoff nicht allein nur in Deutschland produziert werden kann, sondern teilweise aus dem Ausland importiert wird. „Trotz der Berücksichtigung der Importmöglichkeit erneuerbaren Stroms und erneuerbar hergestellter stofflicher Energieträger in unseren Untersuchungen erweist sich auch der Aufbau einer Wasserstoffinfrastruktur sowie die Nutzung von thermischen und elektrischen Speichern in Deutschland im Kontext der Entwicklung des Gesamtsystems als sinnvoll“, ergänzte Studienautor Christoph Kost, Gruppenleiter Energiesysteme und Energiewirtschaft am Fraunhofer ISE.

Neben den vier Hauptszenarien hat sich das Fraunhofer ISE noch zwei weitere Pfade angeschaut, die von einer Senkung der energiebedingten CO2-Emissionen um 100 Prozent bis 2050 gegenüber 1990 vorsehen. Im Szenario „Referenz100“ sind dabei die wesentlichen Trends aus dem Szenario „Referenz“ übernommen worden. Die Wissenschaftler nahmen jedoch eine noch stärkere Verdrängung der verbliebenen fossilen Energieträger an. Die Nettomehraufwendungen liegen in ähnlicher Größenordnung wie für das Szenario „Beharrung“. Das Szenario „Suffizienz2035“ übernimmt hingegen die Annahmen zum Verbrauchsrückgang des Szenarios „Suffizienz“, geht allerdings von einer vollständigen Reduktion der CO₂-Emissionen bereits bis 2035 aus. Die Nettomehraufwendungen lägen in diesem Fall mit 3330 Milliarden Euro mehr als doppelt so hoch als im Szenario „Referenz“. Größter Kostenblock in diesem Szenario sei die große Importmenge synthetischer Energieträger, die dann bereits bis 2035 erreicht werden müsste, um alle Nachfragesektoren frühzeitig vollständig klimaneutral zu versorgen.

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