AKW-Streckbetrieb – Vorrunde zum Revival?

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Der Atomausstieg Deutschlands ist nach dem Atomausstiegsgesetz sicher. Glauben viele. Doch das Thema Wiederkehr der Atomenergie ist schon lange in der Diskussion, auch wenn es hierzulande in der Öffentlichkeit wenig zur Kenntnis genommen wurde. Nun hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck angekündigt, zwei der drei verbliebenen, über 34 Jahre alten AKW, die laut Gesetz Ende 2022 abgeschaltet werden müssten, bis Mitte April 2023 am Netz zu belassen. Sie sollen als Reservekraftwerke genutzt werden. Habeck beruft sich dabei auf die Ergebnisse des sogenannten Stresstests 2.0. Dieser ist umstritten und Kritiker fordern, „den Riss-Reaktor Neckarwestheim 2 und das unter Rissverdacht stehende AKW Isar 2“, so die Anti-Atom-Organisation „.ausgestrahlt“, dürfe man nicht länger laufen lassen. Selbst der Betreiber des AKW Isar 2 hält Habecks Pläne für ungeeignet. Die Meiler als „Kaltreserve für den Notfall vorzuhalten, sei riskant und nicht umsetzbar“, zitiert „Der Spiegel“.

Habecks Schritt ist ungeachtet der vordergründigen Argumentation eine politische Entscheidung. Sie greift erstmals frontal den Markenkern der Grünen Partei an, die sich seit ihrer Gründung 1980 mit dem Ausstieg aus der Kernkraft identifiziert hatte. Entsprechend hoch schlagen die Wellen, nicht nur in der Anti-Atom-Bewegung, sondern auch innerhalb der Grünen Partei. Hatten die Mitglieder noch weitgehend geschluckt, dass der Kohlekompromiss gekippt und der Gas- und LNG-Einkauf mit bisher nie gekannter Geschwindigkeit durchgedrückt wurde, während das sogenannten Osterpaket zur „Lame duck“ verkümmerte, geht es nun um die letzte Bastion des grünen Selbstverständnisses. Bisher haben 157 Grüne einen Antrag unterstützt, den sogenannten Streckbetrieb der beiden AKWs auf der kommenden Bundesdelegiertenkonferenz zu thematisieren und zu kippen. Ausgang offen.

Auch wenn der aktive AKW-Betrieb momentan noch mit einem Konjunktiv verknüpft ist – falls es im Winter zu einer “ krisenhaften Situation“ kommen sollte – die Stimmen für eine Laufzeitverlängerung, also eine Novellierung des Atomgesetzes, sind ganz und gar nicht verstummt. Im Gegenteil. Nach Habecks Entscheidung muss man hinter der Annahme, der Atomausstieg sei beschlossene Sache, ein Fragezeichen setzen. Es wäre ja nicht die erste Kehrtwende in Sachen AKW in diesem Land. Das ganze Palaver um ein Revival der Atomkraft ist eingebettet in die sogenannte Gaskrise, die der Einfachheit halber dem russischen Präsidenten Putin in die Schuhe geschoben wird. Dieses Narrativ wird gegenwärtig von Seiten der Parlamentsparteien, der Regierung und der Medien wie ein Mantra verkündet. Dessen ungeachtet ist und bleibt es ein innerdeutsches Politikum.

Betrachtet man die wirtschaftliche wie auch die technische Seite, also die Situation der Energiewirtschaft, wird deutlich, mit Strom aus den AKW lässt sich die gegenwärtige Situation, die als Gaskrise bezeichnet wird, nicht meistern. Der Strompreis bildet sich nämlich im europäischen Markt. Nicht nur die Preise in der Spitzenlast sind sehr hoch – also dort wo Gaskraftwerke nach dem Merit-Order-Prinzip den Preis bestimmen – sondern auch die in der Grundlast. Und dort spielt Gas gar keine Rolle. Der von Habeck so bezeichnete Streckbetrieb trägt nicht zur Versorgungssicherheit im Winter bei. Dazu wären die unflexiblen AKWs auch gar nicht in der Lage. Auf die stark gestiegenen Strompreise hat der AKW Streckbetrieb keinen Einfluss. Auf die Gaspreise schon gar nicht.

Bezieht man die Situation in Frankreich mit ein, wo im laufenden Sommer bis zu 32 der 56 AKW abgeschaltet werden mussten, sorgte das Defizit bei Atom und Wasserkraft im Nachbarland für satte Gewinne bei den deutschen Versorgern. Sie exportieren vornehmlich Kohle- und Gasstrom und malen zugleich das Schreckgespenst der Stromknappheit an die Wand. Diese Stromknappheit gibt es nicht. Weder das Thema der Versorgungssicherheit noch die hohen Strompreise rechtfertigen die Ausdehnung bzw. Laufzeitverlängerung der beiden AKW. Weder die einheimische Wirtschaft noch die Bürger sind auf den Atomstrom angewiesen.

Die neue Wortschöpfung des Streckbetriebes ist vielmehr ein Paradebeispiel für politisches Framing. Der Begriff erzeugt eine völlig andere Assoziation als Laufzeitverlängerung“: Ein Gummiband, das man auseinanderzieht, dehnt sich, lässt sich strecken und geht danach wieder in seine alte Form und Größe zurück. Diese Metapher soll mit dem Weiterbetrieb der AKW verbunden werden und dafür sorgen, dass der Vorgang harmloser erscheint als er ist.

Warum wird das Thema Laufzeitverlängerung von Habeck und Spitzenfunktionären in Partei und Regierung so gepusht? Erinnern wir uns, und das ist noch nicht so lange her, an die Debatte um die Taxonomie-Regeln der EU. Im Juli 2022 hatte das Straßburger Parlament die Einstufung von Gas und Atom als nachhaltig gebilligt. Damit wurde der Weg für das Öko-Label auf beide Energiequellen frei gemacht. Daraus folgt, dass in Zukunft Investitionen in Atomkraftwerke begünstigt werden. Dies gilt wohlgemerkt für zukünftige Investitionen und betrifft nicht die in Ausmusterung begriffenen Altmeiler. Wer glaubt, mit deren Abschaltung wäre das Thema Atomkraftwerke ein für allemal erledigt, liegt falsch.

Schon damals war der Widerstand der Grünen gegen die Aufwertung der Atomkraft mit einem Ökosiegel, gelinde gesagt, mäßig. Sind sie im Begriff, sich denjenigen Kräften zu öffnen, die in der Atomkraft „die einzige CO2-freie Energiequelle sehen, die zuverlässig und rund um die Uhr elektrischen Strom liefern kann, zu jeder Jahreszeit und fast überall auf der Welt, und die nachgewiesenermaßen im großen Maßstab funktioniert“. Dieses Zitat stammt von Bill Gates aus seinem 2021 erschienenen Buch „Wie wir die Klimakatastrophe verhindern“ (S. 108).

Ist dies eine bösartige Unterstellung oder eine auf der Hand liegende Schlussfolgerung, die sich aus der grünen Politik seit Beginn der Ampel-Koalition ergibt? Damit soll keinesfalls allen Grünen unterstellt werden, sie würden ihre Liebe zu den erneuerbaren Energien an den Nagel hängen. Ganz und gar nicht. Viele dürften nach wie vor überzeugte Anhänger von Solar-, Wind- und Bioenergie sein. Aber welche Verschiebungen der innerparteilichen Kräfteverhältnisse haben zu diesem Umschwung in Sachen AKW, den Habecks Entscheidung markiert, geführt? Und hört dieser Prozess auf oder wird er weitergehen?

Betrachtet man die politischen Kursänderungen und lässt die Beteuerungen, man setze nach wie vor auf 100 Prozent erneuerbare Energien, einmal als Innenpolitik beiseite und wirft den Blick über die Grenzen Deutschlands, ja der EU hinaus, so stellt man fest: Natürlich sind die erneuerbaren Energien weltweit im Aufwind, aber die großen Kapitalmagnaten und mit ihnen das Gros der konservativen Kräfte trommelt zunehmend für die neue Generation kleiner Atomkraftwerke. Sie könnten dezentral und in großer Anzahl gebaut und platziert werden. Sie gelten zugleich als gewinnträchtige Kapitalanlage, nicht nur bei dem vorgeblichen Philanthropen Bill Gates, der mit Milliardensummen Firmen aufgebaut hat, die diese Technologien erforschen, entwickeln und später bauen sollen.

Man mag das für einen nebelverhangenen Blick in die Zukunft halten, denn aktuell und vorerst geht es um die Ausbeutung der verfügbaren beziehungsweise erreichbaren fossilen Quellen, vornehmlich von Öl und Gas unter der auftauenden Arktis. Aber diese sind endlich und alle Supermächte der sich zur Multipolarität wandelnden Welt befassen sich mit den neuen Generationen von AKW. Allerdings ist dies in weiten Teilen der Energiewende- und Klimaschutzbewegung kein Thema. Hier herrscht mehrheitlich noch der Glaube, die Erneuerbaren würden sich automatisch, gewissermaßen einer Gesetzmäßigkeit des Fortschritts folgend, durchsetzen.

Fundamentale Veränderungen der politökonomischen Großwetterlage senden, seismischen Wellen gleich, ihre Botschaft oftmals weit im Vorfeld aus. Es wird sich aber bald zeigen, wohin sich die Waage in Sachen Akzeptanz der Atomkraft in der Gesellschaft – nicht nur bei den Grünen – neigt. Bei den Grünen mag das bei der nächsten Bundesdelegiertenkonferenz der Fall sein. In der bundesdeutschen Gesellschaft dürfte es etwas länger dauern, bis der gegenwärtig noch unausgesprochene Zweikampf zwischen Atom und Solar entschieden sein wird. Allerdings müssen beide Entscheidungen nicht gleich ausfallen.

— Der Autor Klaus Oberzig studierte in Mannheim und der FU Berlin Wirtschaft und Politikwissenschaften. Nach Tätigkeiten in einem Chemiebetrieb wechselte er in die Publizistik und arbeitete bei Printmedien, im Hörfunk und in Pressestellen. 2002 gründete er das Medienbüro „Scienzz Communication“, das sich mit Wissenschaftsthemen, vornehmlich Energie und Medizin, befasst. Erneuerbare Energien und die Energiewende sind aber schon seit den 1980er Jahren sein bevorzugter Schwerpunkt. Er ist Mitglied im Bündnis Bürgerenergie, wo er gegenwärtig als Aufsichtsrat fungiert. —

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