„Zeitenwende“ – aber nicht das, was Olaf Scholz damit meint

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In der öffentlichen Debatte wird der verbrecherische Akt Putins zu Recht verurteilt. Wer aber ist verantwortlich dafür, dass er diesen vollziehen kann? Diejenigen, die ihm jahrzehntelang Gas, Öl, Kohle und Nuklearbrennstoff abgekauft und damit die militärische Aufrüstung ermöglicht haben! Hat es eine derartige Kriegsursache je gegeben? Nein! Das zeigt, dass wir an der Schwelle einer neuen Zeit stehen.

Politiker, Journalisten, Historiker sinnieren über Kräfteverhältnisse und Machtstrategien, wie es in solchen Fällen Tradition ist. Einige erinnern auch an die Vorgeschichte. 2001 warb Putin im Bundestag für ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Deutschland und Russland. Seine ausgestreckte Hand wurde in der weiteren Entwicklung jedoch abgewiesen. Das Ausdehnungsinteresse des westlichen Lagers in Richtung Osten überwog.

Nun grübelt die Politik, wie aus der Ukraine-„Krise“ wieder herauszukommen wäre. Humanitäre Hilfe, Aufnahme der Flüchtlinge – klar, das muss sein. Aber 100 Milliarden-Euro-Aufstockung des Wehretats, Waffenlieferungen an die Ukraine? Die große Frage dabei: Soll die Ukraine in den Stand gesetzt werden, Russland zu besiegen? Diese Waffenlieferungen sind ein rein symbolischer Akt mit der möglichen schlimmen Folge, dass der Krieg länger anhält, mit mehr Toten, mehr Elend, mehr Zerstörungen.

Wie wird sich die wirtschaftliche Isolierung Russlands auswirken? Wem wird sie mehr schaden – Russland oder der EU?

Und wie steht es mit Putins Hinweis auf einen möglichen Einsatz von Atomwaffen?  Ist es bloße Drohgebärde, oder muss man damit rechnen, dass er es realisiert?

Alle diese Themen gehen an der eigentlichen Sache vorbei. Ihr gemeinsamer Nenner ist daher Ratlosigkeit.

Scholz meint mit „Zeitenwende“ die Rückkehr in den kalten oder sogar in einen heißen Krieg. Die wirkliche Zeitenwende, in der wir uns befinden, ist etwas völlig anderes: Zweieinhalb Jahrhunderte lang haben wir die Energie, die unsere Wirtschaft antreibt, durch Verbrennung fossiler Stoffe erzeugt. Dies geht nun seinem Ende entgegen. Nicht nur, weil die Abgase das Klima aufheizen, sondern auch, weil die fossilen Vorräte begrenzt sind und ihre Förderung zunehmend aufwändig und teuer wird. Die wirkliche Zeitenwende ist die Wende von den fossilen zu den erneuerbaren Energien. Sie geht nicht nach hinten wie die „Scholz-Wende“, sondern nach vorn in eine völlig neue Zeit.

Nicht nur die Technik der Energieerzeugung wird sich wenden, sondern sehr viel mehr. Der Wechsel vom auf der Landwirtschaft basierenden Feudalismus zur industriellen Produktion wälzte die gesamte Gesellschaftsstruktur um. Die Veränderungen, die mit dem Wechsel von den fossilen auf die erneuerbaren Energien einher gehen, dürften noch tiefer ausfallen. Schließlich geht es um eine Umpolung der gesamten Technik. Angefangen vom Faustkeil bis hin in die Moderne bestand deren Zweck darin, die gefährlichen und unangenehmen Seiten der Natur zurückzudrängen. Über dieses Ziel sind wir inzwischen hinausgeschossen, indem wir auch die für uns lebensnotwendigen Naturvoraussetzungen schädigen. Die Technik muss so umgestaltet werden, dass ein nachhaltiges Zusammensein der Menschheit mit den Gegebenheiten des Planeten möglich wird.

Dies braucht auch einen neuen Menschentyp. Nicht mehr den raffgierigen Kapitalisten, der der Natur die Rohstoffe entreißt, ungeachtet der Schäden die er damit anrichtet – wenn nur die Kasse stimmt – sondern einen fühlenden und achtsamen Menschen, der eine Symbiose mit allen Lebensformen und Gegebenheiten des Planeten entstehen lassen möchte.

Seit dem späten 20. Jahrhundert gibt es Gruppen, die sich dieser Aufgabe verschreiben. Als vordringlichen Schritt sehen sie die Begrenzung der Klimaerwärmung durch Umstieg von den fossilen auf die erneuerbaren Energien. In zäher, sachkundiger und gleichzeitig von großem Enthusiasmus beseelter Arbeit sind sie Stück für Stück vorangekommen.

Hätte man ihnen freie Bahn gewährt, wäre die Umstellung auf 100-prozentige Versorgung durch die Erneuerbaren längst erreicht. Die konventionellen Konzerne, die ihre Felle davonschwimmen sahen, setzten aber ihre Wadenbeißer aus der Politik auf sie an. Diese kreierten bürokratische Hürden, Hemmnisse, Fußangeln und Fallstricke, die die Entwicklung erheblich bremsten.

Wäre das nicht geschehen, hätten Gas, Öl und Co. längst ausgedient. Ein Putin hätte nicht aufrüsten können und ebensowenig die anderen Potentaten. Das Gesicht der Welt wäre ein anderes. Die Lagerstätten der fossilen Energien sind fix. Kriege wurden geführt, um sie einzugrenzen und zu besitzen. Die Sonne ist nicht ortsgebunden. Ihre Strahlen bestreichen die ganze Erde, „verwischen“ gewissermaßen die von den Menschen gezogenen Grenzen.

Putin hat nicht im Traum daran gedacht, aber mit seinem Ukraine-Krieg erteilt er der Welt – und insbesondere Deutschland und Europa – eine Lektion: Seht ihr, in welches Unglück ihr euch mit eurem Festhalten an der fossilen Energie selbst gestürzt habt!

Es gibt Anzeichen, dass die Lektion gelernt wird. Der Bundesverband Erneuerbare Energien (BEE) verabschiedet sich von seiner bisherigen skandalös erdgasfreundlichen Politik und fordert stattdessen, beim Ausbau der Erneuerbaren jetzt den „Turbo“ einzulegen. Der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck weist sogar auf das grenzüberschreitende Wesen der Erneuerbaren hin: „Sonne und Wind gehören niemandem, anders als Gas und Kohle“.

Ob diese Erkenntnis im „Osterpaket“ zur EEG-Novellierung einen angemessenen Niederschlag findet? Egal. Es sieht so aus, dass die „neue Zeit“ sich ihren Weg sucht. Weitere Ereignisse können stattfinden, die ebenso unvorstellbar sind, wie es der Ukraine-Krieg bis zur letzten Woche war.

— Der Autor Christfried Lenz, politisiert durch die 68er Studentenbewegung,  Promotion in Musikwissenschaft, ehemals Organist, Rundfunkautor, Kraftfahrer und Personalratsvorsitzender am Stadtreinigungsamt Mannheim, Buchautor. Erfolgreich gegen CCS mit der BI „Kein CO2-Endlager Altmark“, nach Zielerreichung in „Saubere Umwelt & Energie Altmark“ umbenannt und für Sanierung der Erdgas-Hinterlassenschaften, gegen neue Bohrungen und für die Energiewende aktiv (https://bi-altmark.sunject.com/). Mitglied des Gründungsvorstands der BürgerEnergieAltmark eG (http://www.buerger-energie-altmark.de/). Seit 2013 verfügt der stellvertretende Sprecher des „Rates für Bürgerenergie“ im Bündnis Bürgerenergie (BBEn) über eine 100-prozentige Strom-Selbstversorgung durch Photovoltaik-Inselanlage mit 3 Kilowattpeak. —

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