Wir stellen uns folgendes Szenario vor: Der Automobilkonzern Audi meldet Insolvenz an und 80.000 Mitarbeiter stehen auf der Straße. Die Bundesregierung reagiert darauf mit Häme: Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel tritt vor den versammelten Automobilverband und verkündet eine „Atempause“ für die zu schnell wachsende deutsche Automobilindustrie. Ein Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel sekundiert mit der Aussage, die Autoindustrie brauche keinen Welpenschutz mehr.
Absurde Vorstellung? Nicht ganz, genau das ist der deutschen Solarindustrie geschehen. In den letzten sechs Jahren hat die zuvor aufstrebende Branche zwei Drittel, rund 81.000, ihrer Arbeitsplätze verloren. Bitter ist das nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für deutschen Stromverbraucher, die mit ihren Stromkosten auch den Durchbruch der Zukunftstechnologie Photovoltaik erst ermöglicht und finanziert haben – und noch viele Jahre finanzieren.
Atemberaubender Wachstumsmarkt
In etwa zeitgleich hat die chinesische Regierung genau das Gegenteil getan: Durch massive staatliche Unterstützung hat sie innerhalb weniger Jahre eine gigantische Photovoltaik-Industrie aufgebaut, die den Weltmarkt längst dominiert. Dabei hatte die industrielle Entwicklung der Photovoltaik hierzulande begonnen.
In Deutschland wurde dagegen ein Schrumpfkurs verordnet, entgegen einem atemberaubend wachsenden Weltmarkt:
• Allein in den letzten drei Jahren hat er sich auf über 70 Gigawatt verdoppelt. In diesem Jahr wird nach den neuesten Prognosen weltweit so viel zugebaut, wie in Europa insgesamt in den letzten 20 Jahren installiert wurde: 100 Gigawatt, 25 Prozent mehr als im Vorjahr. Zum Vergleich: Vor zehn Jahren waren es weltweit nur 2,5 Gigawatt.
• Am Ende dieses Jahres werden die weltweit installierten Solarmodule mehr Leistung liefern als alle in Betrieb befindlichen Atomkraftwerke.
• International arbeiten in der Photovoltaik-Industrie schon heute 3,1 Millionen Beschäftigte und bis 2040 sollen laut Bloomberg fast drei Billionen Dollar in die Solarstromgewinnung investiert werden.
Der Erfolg der Photovoltaik hat einen einfachen Grund: Das Kalkül der Politiker, die im Jahr 2000 das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) geschaffen haben, ist schlicht und einfach aufgegangen. Durch Massenproduktion ist die ehemals teure Ökotechnik billig und in vielen Regionen der Welt bereits konkurrenzfähig geworden. Ausschreibungen in Deutschland weisen für Solarstrom schon Gebote von weniger als 6,0 Eurocent je Kilowattstunde auf, in sonnenreichen Ländern wie Dubai sind es sogar weniger als 2,5 US-Dollar-Cent.
Noch ist die deutsche Photovoltaik-Forschung international an der Spitze, europäische Maschinenbauer errichten Produktionsanlagen weltweit. Jedoch wie lange noch, wenn die Politik vom weltweiten Solarboom ausgerechnet dasjenige Land abkoppelt, in dem durch vorausschauende Gesetzgebung genau dieser Boom erst angestoßen wurde? So warnt Stefan Rinck vom Branchenverband VDMA, dass Entwicklung und Maschinenbau verloren gingen, wenn die Kette aus Forschung, Maschinenbau und Produktion hierzulande unterbrochen würde.
Menetekel für die deutsche Autoindustrie
Und spätestens hier ist die Entwicklung der Photovoltaik auch ein Menetekel für die deutsche Automobilindustrie, die ähnlich wie die Stromwirtschaft allzu lange auf ein „weiter so“ gesetzt hat, anstatt innovative Technologien aktiv voranzutreiben. Hans-Josef Fell, als grüner Bundestagsabgeordneter damals der Initiator des EEG, warnt in diesem Sinn: „Die scheinbare Rücksichtnahme der Regierung auf die Autokonzerne könnte sich in Wirklichkeit zum Niedergang der deutschen Automobilwirtschaft entwickeln, genauso wie es die Regierung schon mit der Rücksichtnahme auf die Kohlewirtschaft und dem damit verursachten Niedergang der deutschen Solarwirtschaft exerziert hat.“
Die Energiewissenschaftlerin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung sieht Deutschland gar in einer Staatskrise: „Der Ausbau erneuerbarer Energien darf nicht länger gedeckelt werden. Nur so kann die Mobilität der Zukunft wirklich klimaschonend sein. Dies schafft enorme wirtschaftliche Chancen: Nur durch das zu lange und krampfhafte Festhalten am Alten werden Arbeitsplätze gefährdet. Investitionen in Zukunftsmärkte schaffen Jobs und echten Vorsprung durch Technik.“
Hase-und-Igel-Wettlauf mit der Politik
Solarunternehmer und Photovoltaik-Pioniere in Deutschland fühlen sich derweil wie in Kafkas surrealem Romanfragment „Der Prozess“, gefangen in einem Hase-und-Igel-Wettlauf mit der Politik. Immer wenn sie ein neues Geschäftsmodell finden, mit dem Solartechnik knapp wirtschaftlich wird, erfindet der Gesetzgeber neue Abgaben und Bürokratie, um den weiteren Ausbau zu bremsen.
Dabei hatte die Kanzlerin Angela Merkel selbst unmittelbar nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima in einer ausführlichen Erklärung noch eine ganz andere Richtschnur ihrer Energiepolitik beschrieben: „Wir möchten die Energieversorgung in Deutschland schnellstmöglich durch erneuerbare Energien gewährleisten. Die einzig redliche Antwort ist der forcierte und beschleunigte Weg in das Zeitalter der erneuerbaren Energien.“
Der Autor Thomas Seltmann ist unabhängiger Experte für Photovoltaik und Autor des Stiftung-Warentest-Ratgebers „Photovoltaik – Solarstrom vom Dach“.
Die Blogbeiträge und Kommentare auf www.pv-magazine.de geben nicht die Meinung und Haltung der Redaktion und der pv magazine group wieder. Unsere Webseite ist eine offene Plattform für den Austausch der Industrie und Politik. Wenn Sie auch in eigenen Beiträgen Kommentare einreichen wollen, schreiben Sie bitte an redaktion(at)pv-magazine.com.
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Die weltweit installierten PV-Anlagen werden nicht Leistung „liefern“ sondern Leistung haben. Liefern werden sie Strom (Arbeit), aber nur etwa ein Zehntel der weltweit laufenden Kernkraftwerke. Die Ausdrucksweise „Leistung liefern“ soll gegenüber wenig fachkundigen Politikern diese Tatsache verschleiern.
Das Gejammere über den starken Zubau in China und den schwachen in D relativiert sich auch, wenn man die Bevölkerungszahlen vergleicht: 1,3 Mrd zu 0,08Mrd (=16) im Vergleich dazu 40GW zu 1,5GW (=27). Damit holt China auf, kommt in der pro Kopf installierten PV-Leistung (59W zu 512W) aber noch nicht an D heran und würde dafür mit dem gegenwärtigen Tempo auch noch 17 Jahre brauchen. Dabei zeigten sich in der Vergangenheit erhebliche Probleme in China, die gebauten PV-Kraftwerke ins Netz zu integrieren. In einer Planwirtschaft scheint das (zumindest eine gewisse Zeit) problemlos zu machen sein. Eine (in gewissen Grenzen) freie Marktwirtschaft tut sich da schwerer, und das ist auch gut so.
Natürlich ist es bitter, wie der PV-Markt in D eingedampft wurde, aber das Gelingen oder Scheitern der Energiewende wird sich nicht dort entscheiden, sondern auf dem Wärmemarkt. Dort hat sich in den letzten 10 Jahren viel zu wenig getan. Immer noch werden kaum Passivhäuser gebaut, die Möglichkeiten zur saisonalen Speicherung von Wärme werden nicht genutzt, sondern laufen, obwohl nahe an der Wirtschaftlichkeit, immer noch als Pilotprojekte.
Der Einwand zur Leistung ist nicht korrekt. Strom ist als Größe Irrelevant, da zur Berechnung der Energie immer das Produkt aus Leistung und Zeit herangezogen werden muß. Der Bezug auf Leistung Pro-Kopf ist in China ebenfalls fragwürdig, da nach wie vor viele ländliche Bereiche Chinas ohne Elektrizität auskommen müssen. Wenn man sich dem jahresernergiebedarf von Deutschland zuwendet, sieht man dass der Gesamtenergiebedarf bei etwa 2400 TWh liegt. Davon entfallen 520 TWh auf Elektrische Energie und 680 TWh auf Treibstoffe für den Verkehr. Wenn also der Verkehr künftig von Flüssigkraftstoffen auf elektrischen Antrieb umgestellt wird, dann findet die Hälfte des Energieverbrauchs in Deutschland künftig elektrisch statt. Im Gegensatz dazu liegt der Energieverbrauch von Haushalten (Gas und Erdölprodukte) bei ca. 370 TWh. Ich sehe daher nicht, dass Wärmebedarf eine größere Rolle spielt, als der Bedarf an elektrischer Energie. Basis dieser Aussagen ist ein PDF des Bundesumweltamtes übder den Gesamtenergiebedarf aufgeschlüsselt nach Sektoren und Energieträgern, Stand 7/2016.
Ein völlig zutreffender Kommentar!
Ich finde es sehr gut, wieder mal mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass wir zwar Lippenbekenntnisse machen, aber nichts tun bzw. eher bremsen. Leider lassen die Wahlprogramme der etablierten Parteien hier auch klare Aussagen vermissen. Und – weil es grade Thema einer Podiumsdiskussion war – auch die Kirchen könnten mal sagen, wie sie sich die „Bewahrung der Schöpfung“ denn vorstellen??? Wo hört und sieht man etwas von der Umsetzung der wunderbar klar formulierten Enzyklika von Papst Franziskus????
Etwas problematisch finde ich allerdings immer den Vergleich der Leistungen von Atomkraftwerken und Kernkraftwerken. Wir wissen alle, dass ein Vergleich der installierten Leistungen mehr als nur „hinkt“ und sollten uns durch solche Thesen nicht angreifbar machen.
Solche Aussagen hätte ich mir besonders von den „Grünen“ im Wahlkampf gewünscht und nicht immer diese Floskeln
– „Wir wollen raus aus der alten Energiewelt“,
– Für die erfolgreiche Energiewende werden wir nicht nur unsere Stromversorgung auf 100 Prozent Ökostrom umstellen,
– Dank der von den GRÜNEN initiierten Energiewende „konnte“ Deutschland Weltmarktführer bei den erneuerbaren Energien werden“ usw.
Damit erreicht man niemand!
Der wunderbarer Vergleich (AUDI/PV-Industrie) hat mir ausgezeichnet gefallen. So etwas kommt auch beim Normalbürger an.
Toller Beitrag!!
Ein Dank dem Autor
Als grotesk empfinde ich, dass die Dumpingpreise der chinesischen Billigmodule als Argument dafür dienen, eine angebliche technologische Überlegenheit der Photovoltaik gegenüber der Solarthermie zu begründen. Aber dann wird darüber gejammert, dass deutsche PV-Hersteller in diesem Markt nicht mithalten können. Dabei müssten sie nur zu marktgängigen Preisen die Produktion hochfahren: Laut euwid-energie.de ist die „Lage am Markt für Photovoltaik-Module “angespannt, wenn nicht dramatisch“.“, weil preiswerte Produkte kaum verfügbar und auch Hochleistungsmodule Mangelware sind.
Wenn die Solarpolitik ein dringendes Thema hat, dann sind das faire Marktbedingungen zur Wiederbelebung der Solarthermie! Oder beruhigt Euch damit, dass alle Audi-Mitarbeiter jetzt schöne Bäder bauen.
Bis eben habe ich Ihre Seite als eine seriöse Informationsquelle empfunden. Dass Sie jetzt mit unpassenden Vergleichen Wahlkampf betreiben lässt mich leider daran zweifeln.