100 Prozent Erneuerbar geht nur dezentral

Strommast

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Am Anfang der Energiewende gab es zwei Dinge: das aus Kohle- und Atomkraftwerken gespeiste Netz, das die gesamte Bevölkerung und Industrie – überwiegend zuverlässig – mit Strom versorgte und daneben ein paar Windräder und Solarmodule. Und diese verlangten nun, mit dem gleichen Recht wie die Großen an der Stromversorgung teilzunehmen. Es mutet erstaunlich an, wurde aber 1990 durch das „Stromeinspeisungsgesetz“ realisiert.

Der durch das EEG 2000 ausgelöste Aufschwung bescherte den Erneuerbaren gut 10 Jahre später einen Strommix-Anteil von 20 Prozent. Trotz der nun einsetzenden üblen Bremsmaßnahmen wuchs der Anteil weiter.

Das existierende Stromnetz wurde von den meisten Akteuren als die ausschließliche Versorgungsinstanz nicht in Frage gestellt. Unter dem Vorankommen der Energiewende verstand man das weitere Wachsen des Anteils der Erneuerbaren in diesem Netz.

Die „Vorhut“ fasste die 100 Prozent-Marke ins Auge. „100 Prozent-EE-Kommunen“ bildeten sich, die auf ihrem Territorium mehr Energie erzeugten, als sie selber verbrauchten. Das waren großartige Demonstrationen der Leistungsfähigkeit der erneuerbaren Energien. Gleichzeitig wurde hierbei aber auch eine Aporie sichtbar: Die 100 Prozent (oder mehr) waren bilanziell zu verstehen, bedeuteten nicht, dass der Strombedarf zu jeder Stunde des Jahres ausschließlich durch Erneuerbare gedeckt wurde. Bei ungünstigen Wetterlagen blieb man auf das Netz mit dem darin befindlichen Kohle- und Atomstrom angewiesen.

Damit wurde klar, dass eine durchgängige 100 Prozent-Versorgung nur unabhängig vom Netz in Form einzelner, begrenzter Projekte verwirklicht werden kann. Die Kombination unterschiedlicher Quellen erneuerbaren Stroms, Sektorenkopplung, Speicherung, flexible Abstimmung auf den Bedarf erfordert Anpassung an die jeweiligen individuellen Bedingungen und Bedürfnisse vor Ort.

Dass sich die erneuerbaren Energien über ein paar Jahrzehnte an der Einspeisung in das zentrale Netz beteiligten, war sinnvoll und diente ihrer Entwicklung. Nun, wo es „ums Ganze“ geht, um die 100 Prozent, kommt unabweisbar zum Vorschein, dass das Wesen der Energiewende dezentral ist.

Nicht umsonst hat die letzte Bundesregierung mit Sigmar Gabriel (SPD) als Wirtschaftsminister in ihren Grün- und Weißbüchern zum Strommarktdesign niemals ein 100 Prozent-Szenario beschrieben und das Thema „Langzeitspeicherung“ in eine ferne, unreale Zukunft verschoben. Eine in ein Zentralnetz integrierte Speicherung würde denn auch gigantische Ausmaße benötigen und wäre gleichzeitig nicht in der Lage, die von Ort zu Ort unterschiedlichen Bedürfnisse intelligent zu befriedigen.

All dies bedeutet nicht, dass es in einer Wabenstruktur aus lokalen und regionalen Energieeinheiten kein Netz mehr geben wird. Die einzelnen in sich autarkiefähigen „Waben“ werden sich für zusätzliche Versorgungssicherheit durchaus miteinander verbinden. Solche Vernetzung unterscheidet sich von dem bestehenden Netz in zwei Punkten: Erstens, es werden vergleichsweise kleine Strommengen übertragen. Zweitens, Betreiber sind nicht Konzerne, deren allererste Aufgabe darin besteht, ihren Geldgebern Rendite zu erwirtschaften, sondern Menschen, denen es Freude macht, eine klima- und menschenfreundliche Energieversorgung bereitzustellen.

Der Ortsteil Dörpum – rund 500 Einwohner – der Gemeinde Bordelum in Schleswig-Holstein hat es geschafft: Seit 2019 ist er stromautark, Überschüsse fließen in die lokale Wärme und Mobilität. Weitere Projekte, auch in Süddeutschland, sind auf dem Weg.

Die Energy Watch Group mit ihrem Präsidenten Hans-Josef Fell hat im April 2020 „Eckpunkte für eine Gesetzesinitiative zur Systemintegration Erneuerbarer Energien“ http://energywatchgroup.org/eckpunkte-fur-eine-gesetzesinitiative-zur-systemintegration-erneuerbarer-energien vorgelegt: Durch Kombination verschiedener erneuerbarer Stromquellen mit Speicherung und Sektorenkopplung wird ein „Erzeugungsmix aus 100 Prozent erneuerbaren Energien“ zusammengestellt, der „zu jeder Stunde des Jahres bedarfsgerecht“ zur Verfügung steht. Als Projekte kämen in Frage zum Beispiel mittelständische Produktionsbetriebe, Krankenhäuser, Schulen, Wohnareale. In einer Studie zur 100-prozentigen Vollversorgung aus erneuerbaren Energien im Landkreis Bad Kissingen wurde ermittelt, dass ein derartiges Stromprodukt für eine Vergütung von 8 Cent pro Kilowattstunde machbar wäre.

Zahlreiche Privatprojekte hat die Bundesregierung selbst auf den Weg in die Autarkie getrieben: In ihrem Eifer, den Ausbau von Photovoltaik-Dachanlagen durch Absenkung der Einspeisevergütung zu bremsen, hat sie nicht bedacht, dass sie dadurch den Eigenverbrauch lukrativ macht. Durch inzwischen weiter entwickelte Speichertechnik kann dieser ohne Weiteres 80 Prozent und mehr betragen.

Ihren Fehler wollen Bundesregierung und Bundesnetzagentur nun korrigieren, indem sie den Eigenverbrauch entweder verbieten oder durch eine überhöhte Grundgebühr obsolet machen.

Die Tatsache, dass Sonne und Wind (fast) überall naturgegeben zur Verfügung stehen und durch ein Netz gar nicht kanalisierbar sind, wird dadurch aber nicht aus der Welt geschafft.

Hinzu kommt auch noch EU-Erneuerbaren-Richtlinie, die den Eigenverbrauch von selbst erzeugtem Strom befürwortet und dafür sorgt, dass er weder durch Abgaben noch durch „diskriminierende oder unverhältnismäßige Verfahren“ behindert wird.

Aus der Begründung:

  • „Mit dem Übergang zur dezentralisierten Energieproduktion sind viele Vorteile verbunden, beispielsweise die Nutzung vor Ort verfügbarer Energiequellen, eine bessere lokale Energieversorgungssicherheit, kürzere Transportwege und geringere übertragungsbedingte Energieverluste. Diese Dezentralisierung wirkt sich auch positiv auf die Entwicklung und den Zusammenhalt der Gemeinschaft aus, weil vor Ort Erwerbsquellen und Arbeitsplätze entstehen.“ (Randziffer 65, S. 91)
  • Die Beiträge der Eigenversorger „zur Verwirklichung des Klimaschutz- und Energieziels … sollten berücksichtigt werden.“ (Randziffer 68, S. 92)

Der Bundesregierung ist diese Richtlinie ein Dorn im Auge. Da sie von ihr quasi geheim gehalten wird und von der ausstehenden Umsetzung in deutsches Recht eine Sinnentstellung zu befürchten ist, gibt es seit einigen Tagen die Online-Petition Wir brauchen jetzt ein Recht auf solare Eigenversorgung! Hausgemachte Energie für alle!, gestartet von BBEn-Ratsmitglied und SFV-Mitglied Volker Quaschning.

— Der Autor Christfried Lenz, politisiert durch die 68er Studentenbewegung,  Promotion in Musikwissenschaft, ehemals Organist, Rundfunkautor, Kraftfahrer und Personalratsvorsitzender am Stadtreinigungsamt Mannheim, Buchautor. Erfolgreich gegen CCS mit der BI „Kein CO2-Endlager Altmark“, nach Zielerreichung in „Saubere Umwelt & Energie Altmark“ umbenannt und für Sanierung der Erdgas-Hinterlassenschaften, gegen neue Bohrungen und für die Energiewende aktiv (https://bi-altmark.sunject.com/). Mitglied des Gründungsvorstands der BürgerEnergieAltmark eG (http://www.buerger-energie-altmark.de/). Seit 2013 verfügt der stellvertretende Sprecher des „Rates für Bürgerenergie“ im Bündnis Bürgerenergie (BBEn) über eine 100-prozentige Strom-Selbstversorgung durch Photovoltaik-Inselanlage mit 3 Kilowattpeak. —

Die Blogbeiträge und Kommentare auf www.pv-magazine.de geben nicht zwangsläufig die Meinung und Haltung der Redaktion und der pv magazine group wieder. Unsere Webseite ist eine offene Plattform für den Austausch der Industrie und Politik. Wenn Sie auch in eigenen Beiträgen Kommentare einreichen wollen, schreiben Sie bitte an redaktion(at)pv-magazine.com

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