Die Gehversuche der Energieversorgungsunternhemen (EVUs) in Richtung neue Geschäftsmodelle sind zögerlich. Die Gründe dafür liegen auch bei ihnen selbst. Bisher sehen die meisten EVUs noch kein echtes Geschäft in neuen Feldern, die sie ja durchaus angehen, sondern vor allem in Imagepflege und einer verbesserten Kundenbindung. Gleichzeitig erwartet die Hälfte der EVUs starke oder fundamentale Veränderungen ihrer Geschäftsmodelle bis 2020. Es muss sich also noch etwas tun.
Neue Geschäftsmodelle werden nur geschaffen, wenn die Unternehmen sich nicht an den traditionellen Wettbewerbern orientieren: So hat IKEA hat mit seinem preiswerten und trotzdem modischen Design und neuartigen Verkauf von Möbeln die Möbelindustrie revolutioniert. Warum innoviert also nicht jede Firma ihr Geschäftsmodell?
Die Antwort findet sich nicht im fehlenden Willen. Vielmehr ist das Denken außerhalb der eigenen Branchenlogik schwierig, mentale Barrieren blockieren die Entwicklung gänzlich neuer Ideen. Selbst grundsätzlich offen denkende Führungskräfte schaffen es kaum, die dominante Logik ihrer Firma und ihrer Branche nach einigen Jahren Erfahrung zu durchbrechen. Die dominante Branchenlogik wird immer dann sichtbar, wenn ein Neueinsteiger im Unternehmen Fragen stellt. Geduldig und nachsichtig erklären dann die Branchenexperten dem Neuling die dominante Branchenlogik: „Unsere Branche ist anders als andere. Das Geschäft läuft hier nun einmal nur so. Anders akzeptiert es der Kunde nicht.“ Auch die dominante Branchenlogik der Energieversorger verhindert Geschäftsmodellinnovation.
DNA der EVUs
Die „DNA“ eines EVUs ist geprägt durch die Welt des kapitalintensiven Infrastrukturgeschäftes, wo insbesondere die Kostenoptimierung durch Skaleneffekte für Anlagen und Netze im Vordergrund steht. Im kleinteiligen kundenorientierten Servicegeschäft müssen anstelle von kapitalintensiven Anlagen nun Kundenbeziehung, Know-how und IT optimiert werden. Gleichzeitig werden Innovationsfähigkeit und Kundenorientierung zum Erfolgsfaktor – Dinge, die bisher nicht Teil der organisatorischen Strukturen und Prozesse und Fähigkeiten der Mitarbeiter, der „DNA“ der meisten EVUs sind.
Viele Geschäftsmodelle, wie zum Beispiel automatisierte Verbrauchersteuerungen, erfordern ein hohes Maß an Kundenverständnis und Kundeninteraktion – Neuland für eine Branche, deren Kundenkontaktpunkte sich bisher auf Rechnungsstellung und Zählerablesung beschränkten. Dass hohe Kompetenzen in Informations- und Kommunikationstechnologie und die „Leitung“ zum Endkunden strategische Waffen sind, zeigt der Fall Swisscom Energy Services, eine Tochter des größten Schweizer Telekommunikationsunternehmens: Swisscom löst bei Unterkapazitäten im Netz, zum Beispiel durch einen Kraftwerksausfall, bei angeschlossenen Wärmepumpen in den Haushalten eine verzögerte Energieaufnahme aus, was die Wohnungstemperaturen nur unmerklich beeinflusst. Diese neu gewonnene Kapazität vergütet Swissgrid, der Schweizer Netzanbieter auf dem sogenannten Regelenergiemarkt. Die Vergütungen teilt sich Swisscom mit den Kunden ihres neuen Geschäftsmodells. Bei den EVUs gibt man sich zerknirscht – wildert Swisscom schließlich mit diesem Geschäftsmodell im Markt der Regelenergie – einem Markt der EVUs.
Grundsätzlich müssen bei der Entwicklung von neuen Geschäftsmodellen vier Grundfragen gestellt werden:
- Wie profitiert der Kunde vom Produkt oder Service, was ist der Nutzen?
- Was ist das Nutzenversprechen (Was?)
- Für wen ist der Nutzen relevant, wer sind die Zielgruppen und Kundengruppen? (Wer?)
- Wie wird das Nutzenversprechen generiert? Wie sieht die Wertschöpfung aus? (Wie?)
- Warum wird mit dem Geschäftsmodell Geld verdient? Wie sieht die Erlösmechanik aus? (Wert?)
- Diese Fragen helfen zum einen, das eigene aktuelle Geschäftsmodell grundlegend zu verstehen, zum anderen können auf dieser Basis neue Geschäftsmodelle für die Energiewirtschaft entworfen werden.
Die Fähigkeit, das Kerngeschäft stetig zu innovieren, sprich Geschäftsmodellinnovation zu betreiben, ist und bleibt für die EVUs die größte Herausforderung: strukturell und im Kopf der Manager – war es doch bisher nie erforderlich. Die Führungskräfte verstehen meist nicht, warum sie ihre Komfortzone verlassen sollen, solange sie mit dem bisherigen Geschäftsmodell noch immer Gewinne erzielen. Sollten die Gewinne jedoch einmal einbrechen, ist es oft zu spät für neue Geschäftsmodelle.
Auch die Insolvenz von Kodak ist darauf zurückzuführen, dass die dominante Branchenlogik nicht rechtzeitig durchbrochen wurde. Obwohl Kodak 1975 sogar die erste Digitalkamera entwickelt hatte, verzichteten sie auf die Markteinführung – aus Angst, das dominante Geschäftsmodell, nämlich die analoge Fotografie, zu unterwandern. Auch 1999 prognostizierte Kodak einen Marktanteil von lediglich fünf Prozent für Digitalfotografie – eine existenzielle Fehleinschätzung, die 2012 zur Insolvenz führte.
Geschäftsmodellinnovation erfordert also zusätzlich zur oben dargestellten Struktur den Blick über den Tellerrand, der allerdings gar nicht so hoch ist, wie man denken könnte. Das zeigen unsere Forschungsergebnisse an der Universität St. Gallen. 90 Prozent aller Geschäftsmodellinnovationen sind eine Rekombination von Elementen bestehender Geschäftsmodelle. Ziel des Forschungsprogramms war es, eine Konstruktionsmethodik für Geschäftsmodelle zu entwickeln. Hierzu wurden über 400 erfolgreiche Firmen und ihre Geschäftsmodellinnovationen der letzten 150 Jahre analysiert. Bei dieser Analyse konnten 55 unterscheidungsfähige Muster, die immer wieder den Kern neuer Geschäftsmodelle bilden, identifiziert werden.
Razor and Blade
Ein Beispiel für ein solches Muster oder „Pattern“ ist „Razor and Blade“ (siehe Grafik). Das bezeichnet das Prinzip, ein Gut sehr günstig zu verkaufen und dann im Nachgang mit Ersatzteilen und Service den Hauptumsatz zu erzielen. Dieses Pattern wurde zum Beispiel von Nestle (mit Nespresso), von Amazon (mit dem Kindle) und von Apple erfolgreich angewendet. Dieses Muster hat auch für den B2B-Bereich Bestand. Siemens betreibt sein Dampfturbinengeschäft genau nach diesem Prinzip – mit den Turbinen selbst sind vergleichsweise geringe Investitionskosten verbunden – das Gros des Umsatzes wird mit Wartungsverträgen generiert.
Bei einem anderen Muster mit dem Namen „Subscription“ zahlt der Kunde regelmäßig eine Gebühr, zumeist auf monatlicher und jährlicher Basis (Wert?) und erhält hierdurch den Zugang zu einem Produkt oder einer Dienstleistung (Was?). Auch wenn das Muster bereits seit langer Zeit existiert, führt seine Anwendung in unterschiedlichen Kontexten heute noch zu radikalen Innovationen, zum Beispiel wendet Software-Anbieter Salesforce dieses Pattern für seine bestehende Produktpalette sehr erfolgreich an und mischt den Markt der Unternehmens-Software auf, der sonst von klassischen Lizenzmodellen geprägt ist.
Auch die im österreichischen Vorarlberg ansässigen Illwerke wenden bei ihrem Produkt „Vlotte“ eine Kombination verschiedenster Pattern, darunter auch „Subscription“ und „Flatrate“, welches ein bekanntes Muster darstellt, an. Sowohl Alpiq Intec mit der „Grid-Sense“-Technologie als auch RWE mit der „Smart-Home“-Produktpalette wenden das Pattern „Leverage (Customer) Data“ an (siehe Kasten): Dabei steht die Sammlung von Daten im Vordergrund, um diese für das Produkt selbst oder sogar direkt gewinnbringend zu verwenden. Amazon und Google haben diese Form der Geschäftsmodelllogik „erfunden“. Je nach Muster beeinflussen die 55 verschiedenen Pattern mindestens zwei der oben genannten Geschäftsmodelldimensionen (Was? Wer? Wie? Wert?).
Strategische Fenster nutzen
Durch das Arbeiten mit Geschäftsmodellmustern werden Unternehmen strukturiert an die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle herangeführt. Dabei wird zuerst durch die Anwendung von externen Mustern die dominante Branchenlogik durchbrochen. Anschließend wird dann das Muster in ein innovatives Geschäftsmodell überführt, das heißt auf den konkreten Kontext des Unternehmens übertragen. In diesem Schritt bleibt Freiraum für eigene Ideen und Kreativität – am Ende stimmt die Balance zwischen externem Neuigkeitsgehalt und interner, kreativer Eigenentwicklung. Die Methodik stellt damit auch für die Energiewirtschaft einen Ansatz dar, aus ihrer dominanten Branchenlogik auszubrechen.
Damit sich aber eine Eigendynamik am Markt einstellt, muss es auch den EVUs gelingen, aus den vielen verschiedenen Einzelmaßnahmen und Gehversuchen ein richtiges Geschäft zu entwickeln. Gelingt es den EVUs, in neuen Geschäftsfeldern ihre Wertschöpfungstiefe weiter zu erhöhen und nicht mehr als reiner Stromlieferant aufzutreten, sondern auch zum Beispiel Planung oder Finanzierung von Energiesparpojekten zu übernehmen, so kann das Thema an Fahrt aufnehmen.
Gleichzeitig müssen sich die EVUs radikal umbauen und ihre neue Rolle finden: Neue Geschäftsfelder sind meistens zunächst von geringeren Margen geprägt, dienen aber als „strategischer“ Zugangspunkt für zukünftige Geschäfte und Profitabilität, die es zu besetzen gilt – sonst machen es andere. Das gilt im Übrigen auch für viele Unternehmen der Solarbranche, die die EEG-Welt in absehbarer Zeit verlassen müssen und sich schon jetzt in einer schwierigen Übergangsphase befinden.
Die Energiewirtschaft wäre nicht die erste Branche, die durch Digitalisierung und Deregulierung völlig neu strukturiert wird und dabei neue Gewinner, aber auch alte Verlierer erzeugt: Neue Player wie Swisscom, Google & Co. sind völlig andere Innovationsgeschwindigkeiten gewohnt und können zu den neuen Gewinnern gehören.
Wie sich EVUs erneuern – Drei Beispiele
Das alte Geschäftsmodell der Energieversorger gerät zunehmend unter Druck. In Deutschland sank bei den „Großen“ RWE, Eon und EnBW im Zeitraum von 2006 bis 2013 die Kapitalrentabilität (ROCE) um 35 Prozent. Und 20 Prozent aller deutschen Stadtwerke stehen wirtschaftlich noch schlechter da als die Stadtwerke Gera, deren Gang zum Insolvenzverwalter Ende Juni in Deutschland für Schlagzeilen sorgte.
Vor diesem Hintergrund geht die Branche erste zaghafte Gehversuche bezüglich neuer Geschäftsmodelle. RWE bietet eine breite Produktpalette für intelligente Haussteuerungen an, welche für den Endkunden den Energieverbrauch optimieren sowie Wohnkomfort und Sicherheit steigern sollen. Wird beispielsweise das Haus verlassen, so können automatisch Elektrogeräte ausgeschaltet, die Heizung heruntergeregelt und die Rollläden geschlossen werden. Von der Ferne lassen sich damit Geräte über mobile Endgeräte kontrollieren und regeln.
Alpiq Intec, die Energieservice-Tochter eines der größten Schweizer EVUs, verkauft eine Technologie an Geschäftskunden, die alle Arten von Elektrospeichern (Boiler, Batterien, Ladestationen für Elektroautos) so steuert, dass der Aufladezeitpunkt automatisch kostenoptimal gewählt wird. Dabei lernt die Technologie das Verhalten von Stromnetzen sowie von Gerätenutzern unter Einbezug weiterer externer Datenquellen wie etwa Wetterdaten, welche eine Prognose erlauben, wie viel erneuerbare Energie in wenigen Stunden im Netz zur Verfügung stehen wird. In Zukunft soll das Wasser im hauseigenen Boiler dann erhitzt werden, wenn ein Übermaß an erneuerbarer Technologie im Netz zur Verfügung steht. Ab Herbst 2014 stattet Alpiq Ladestationen für Elektroautos mit der Technologie aus – Boiler, Wärmepumpen et cetera folgen.
Die im österreichischen Vorarlberg ansässigen Illwerke bieten unter dem Kürzel „Vlotte“ Kunden eine Palette von Mobilitätsdienstleistungen, zu denen auch Elektrofahrzeuge inklusive Batterie und Ladeinfrastruktur gehören – eine „Flatrate“ für Mobilität in der Region Vorarlberg inklusive Elektroauto ist somit für unter zehn Euro am Tag zu haben. Nach Informationen der Illwerke sind bereits 357 Elektroautos mit Vlotte unterwegs – Tendenz steigend.
An erster Stelle für neue Geschäftsfelder stehen momentan Beratungsdienstleistungen zum Thema Energieeffizienz. Aber auch langfristig sehen EVUs im „Smart Grid“, einem zukünftigen intelligenten Stromnetz, neue Möglichkeiten. Die Abstimmung zwischen Verbrauchern, Erzeugern, Speichern, Netzen und Handel soll in Zukunft hochautomatisiert vonstatten gehen – wer will schließlich ständig seinen Energieverbrauch managen und kontrollieren? Im zukünftigen Smart Grid wird Informations- und Kommunikationstechnologie eine tragende Rolle für diese Koordination spielen. Grundsätzlich sind zahlreiche Geschäftsmodelle zwischen dezentraler Erzeugung, dezentralem Verbrauch und dezentraler Speicherung möglich.
An Ideen mangelt es also nicht – doch laut Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE) sehen nur wenige EVUs ein echtes Geschäft in neuen Feldern. In Deutschland dürfte es nicht anders sein. Vielmehr geht es bisher rein um Imagepflege und eine verbesserte Kundenbindung. Also viel Lärm um nichts? Eher nicht, denn der Handlungsdruck ist unverkennbar und wird auch wahrgenommen: Mehr als die Hälfte der EVUs erwartet laut einer Studie der KPMG starke oder fundamentale Veränderungen ihrer Geschäftsmodelle bis 2020. Moderne Innovationsforschung zeigt, dass Geschäftsmodellinnovation ein mentales Ausbrechen von Managern aus bestehenden Denkstrukturen und Mustern der eigenen Industrie erfordert, und liefert Ansätze zur Überwindung dieser mentalen Barrieren.
Die Autoren Oliver Gassmann ist Professor für Technologie und Innovationsmanagement an der Universität St. Gallen (HSG) und seit 2002 geschäftsführender Direktor des Instituts für Technologiemanagement. Er hat über 300 Publikationen und Bücher über Innovation veröffentlicht und wurde unter die Top 30 der einflussreichsten Ökonomen Deutschlands (F.A.Z.) gewählt. | |
Maximilian Palmié hat an der Universität St. Gallen zu Organisationsstrukturen im Innovationsmanangement promoviert und ist Direktor des Energy Innovation Labs. Das Energy Innovation Lab forscht zum Thema Geschäftsmodellinnovation und Stakeholder Management im Zeichen der Energiewende im engen Austausch mit Praxispartnern aus der Energiewirtschaft. | |
Jonas Kahlert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Energy Innovation Lab an der Universität St. Gallen und forscht zu den Themen Geschäftsmodellinnovation und Stakeholder Management in der Energiewirtschaft. |
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