Wie Scholz und Laschet ihre Wählerschaft täuschten

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Am Dienstag vergangener Woche verkündete RWE nach Abstimmung mit dem Bundeswirtschaftsministerium, nur noch bis 2030 Kohle verstromen zu wollen. Wer sich mit der Materie auskennt, ist davon nicht überrascht. In den Tagen danach sprachen sich allerdings sowohl die CDU-Ministerpräsidenten Sachsens Michael Kretschmer und Sachsen-Anhalts Reiner Haseloff als auch Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke von der SPD – also alle verbliebenen Regierungschefs von Kohleländern – gegen so einen frühen Kohleausstieg aus. Auch das überrascht nicht.

Was in Sachen Energiewende technisch möglich und wirtschaftlich sinnvoll ist, wird in Deutschland oft politisch sabotiert. Das liegt wohl nicht zuletzt an der Rücksichtnahme auf die Menschen vor allem in den Kohleregionen, denen jahrzehntelang mit einem Kohle-Aus Angst gemacht wurde. Auch im letzten Bundestagswahlkampf zeigte sich das. Olaf Scholz lehnte als Kanzlerkandidat der SPD immer wieder ein Vorziehen des damals für 2038, frühestens 2035 angepeilten Kohleausstiegs ab. Sein CDU/CSU-Konkurrent Armin Laschet stellte zwar einen schnelleren Ausstieg in dem von ihm regierten Bundesland Nordrhein-Westfalen in Aussicht, sprach sich aber wegen der ostdeutschen Kohleregionen gegen ein offizielles Vorziehen aus und kritisierte sogar nach der Wahl die zaghafte Formulierung im neuen Koalitionsvertrag, die Kohleverstromung solle „idealerweise bis 2030“ enden. Beide ignorierten damit die wirtschaftliche und juristische Ausgangslage.

Die wirtschaftliche Ausgangslage im Wahlkampf 2021

Zunächst zur wirtschaftlichen Ausgangslage. Dass Kohlekraftwerke sich nur noch schlecht, zum Teil gar nicht mehr rechneten, war 2021 kein Geheimnis. Das stiftungsfinanzierte Londoner Forschungsinstitut Carbon Tracker legt dazu seit 2011 Studien vor. 2018 war eine Erkenntnis, dass über 40 Prozent der weltweiten Kohlekraftwerke keinen Gewinn machten. 2020 lautete eine der Aussagen von Carbon Tracker: 60 Prozent aller Kohlekraftwerke produzieren so teuer Strom, dass es sich lohnen würde, sie durch neue Ökostromanlagen zu ersetzen, und ab 2030 wird das für alle Kraftwerke gelten. Die Dauerbotschaft des Instituts ist, dass da hunderte Milliarden US-Dollar an Investitionen in den Sand gesetzt worden seien, was auch permanent die weltweiten Finanzmärkte bedrohe.

Ein Beispiel aus Deutschland: 2019 kam eine Studie des damaligen Forschungsinstituts Sandbag (heute Ember) zu dem Ergebnis, dass deutsche Kohlekraftwerke im ersten Halbjahr einen Verlust von über 500 Millionen Euro angehäuft hatten. Das Kraftwerk Lippendorf in Sachsen wurde deshalb sogar zeitweise vom Netz genommen. Ende 2020 gab es dann einen sehr großen Andrang von Kraftwerksbetreibern auf die staatliche Abschaltprämie, was die Höhe der Prämien stark senkte. Sogar das Vattenfall-Kraftwerk Hamburg-Moorburg wurde in diesem Zuge stillgelegt, dabei war es erst 2015 ans Netz gegangen, und Kraftwerke werden eigentlich für eine jahrzehntelange Laufzeit ausgelegt.

Die juristische Ausgangslage

Die sinkenden Kosten von Photovoltaik und Windkraft treiben die Energiewende also weltweit voran. Märkte sind zudem nicht unabhängig von ihrer politischen Regulierung zu betrachten, und das ist in der EU ein wichtiger Faktor. In Deutschland kommt dazu noch das epochale Urteil des Bundesverfassungsgerichts von April 2021, das die Regierung zwang, ihre klimapolitischen Ziele zu verschärfen.

Wie sich schon die schrittweise Verteuerung der Zertifikate für den Ausstoß von Kohlendioxid im europäischen Emissionshandel auswirken kann, zeigt ein Beispiel aus dem eigentlich kohlestolzen Polen. Dort wurde die Baustelle für ein großes Kohlekraftwerk wegen dessen schlechter wirtschaftlicher Aussicht im März 2021 abgebrochen.

„Wir sehen eine Verschiebung in der fundamentalen Energieökonomik, in dem fundamentalen Preisgefüge in der Energiewirtschaft“, erklärte Gunnar Luderer in einem Radiobeitrag von Deutschlandfunk Kultur von Januar 2022. Ursache sei das Zusammenspiel von Verbilligung der Ökostromproduktion und politischen Vorgaben. Luderer leitet am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) die Forschungsgruppe Energiesysteme, und in dieser Funktion auch das Projekt „Ariadne“. In ihm suchen 25 Institute finanziert vom Bundesforschungsministerium Wege, wie Deutschland bis 2045 klimaneutral werden kann. Zudem ist er Professor für Energiesystemanalyse an der Technischen Universität Berlin. Auch an Berichten des Weltklimarates hat er mitgearbeitet.

Luderer hielt es wegen der europäischen und deutschen Klimaschutzziele für so gut wie unausweichlich, die Kohleverstromung spätestens 2030 zu beenden. Die Formulierung im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung, das Kohle-Aus solle „idealerweise bis 2030“ bewerkstelligt werden, kommentierte Luderer mit den Worten: „Letztlich bestehen keine größeren politischen Gestaltungsmöglichkeiten bezüglich des Ausstiegs aus der Kohle, denn der wird sehr stark durch den Emissionshandel marktwirtschaftlich getrieben werden. Ich gehe davon aus, dass die Kohle 2030 weitestgehend aus dem Markt gedrängt wird, weil sie unwirtschaftlich ist.“

Wie sehr die verhaltene, Ungewissheit suggerierende Aussage im Koalitionsvertrag der Realität widerspricht, zeigt auch die 300-seitige Studie namens „Klimapfade 2.0“, die der nicht gerade als umweltfreundlich bekannte Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) im Oktober 2021 – also parallel zu den Koalitionsverhandlungen – veröffentlichte. Sie spricht von einer „beispiellosen Zäsur“ und dem „größten Aufbauprojekt“ in der Geschichte des deutschen Stromsektors – und sie geht von einem Kohleausstieg 2030 aus.

Politische Akteure verweigern sich der Realität

All das war 2021 natürlich alles andere als Exklusivwissen von Wissenschaftlern und Konzernen. So sagte schon im April Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) in einem Zeitungsinterview, sie gehe wegen der EU-Klimaziele von einem Kohleausstieg 2030 aus. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sprach sich dann im Juli in einer Regierungserklärung explizit für den Kohleausstieg 2030 aus. In der Aufnahme seiner Rede im Landtag ist der Satz zu hören: „Ich halte 2038 nicht nur für unambitioniert, sondern auch für marktwirtschaftlich sinnlos.“ Schon 2019 hatte Söder das Zieljahr 2030 vorgeschlagen. Damals kritisierte er sogar, dass die 40 Milliarden Euro Staatshilfen für die betroffenen Bundesländer nur in die Bergbauregionen gehen sollten. Er forderte, einen Teil des Geldes in die Forschung zu erneuerbaren Energien zu stecken. Der Deutsche Gewerkschaftsbund empörte sich über diesen Vorschlag.

2021 gab es dann noch mehr Druck aus CDU/CSU für das Vorziehen des Kohleausstiegs. Der frisch aus diesen Parteikreisen gegründete Verein Klimaunion führte im Lauf des Wahlkampfs Gesprächsveranstaltungen mit Konzernen und mittelständischen Firmen durch. Am 30. August, also vier Wochen vor der Bundestagswahl, schrieb er dazu in einer Pressemitteilung: „Daraus sind Maßnahmen erarbeitet worden, die den Energiemarkt entfesseln und das Zeug haben, über marktwirtschaftliche Kräfte das Ziel 100 Prozent erneuerbare Energien in den nächsten zehn Jahren zu erreichen.“

Führende CDU-Politiker sollen das Positionspapier der Klimaunion bestellt haben, darunter Friedrich Merz, der mittlerweile Parteivorsitzender ist. Ein Vorstandsmitglied der Klimaunion bezeichnete es als „Gift für den Industriestandort Deutschland“, wenn die Energiewende nicht beschleunigt wird. Die aktuelle Regierung hingegen hatte bis zur Ukraine-Invasion durch Russland sogar den Bau vieler neuer Gaskraftwerke angepeilt.

Aus der traditionell besonders kapitalismusfreundlichen CDU/CSU kommt also seit langem mehr Druck für eine schnellere Energiewende als aus der SPD-Spitze und den Gewerkschaften. Das verdeutlicht, wie sehr der Energiemarkt schon in diese Richtung drängt. Und es zeigt, dass Armin Laschet als damaliger Ministerpräsident eines Landes mit Kohleverstromung und Olaf Scholz im Bundestagswahlkampf die Bevölkerung über die Ausgangsbedingungen täuschten, als sie sich gegen jegliches Vorziehen des damals frühestens für 2035 vorgesehenen Kohleausstiegs aussprachen. Es ist offenbar sogar fraglich, ob die Bundesregierung eine längere Kohleverstromung als bis 2030 überhaupt erzwingen könnte.

Im Fall Laschet ist die Täuschung seiner Wählerschaft besonders offensichtlich. Denn als Hendrik Wüst, sein Nachfolger als Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident, am 3. November 2021 – übrigens also ebenfalls während der Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene – seine Antrittsrede im Landtag hielt, überraschte er mit den Worten: „Für mich ist klar: Wir sind in Nordrhein-Westfalen zu einem Ausstieg aus der Kohle auch schon 2030 bereit, und wollen alles dafür tun, dass uns das gelingt.“

Dankenswerterweise lieferte Wüst die drei Gründe gleich mit, die das unabhängig von der Haltung der Bundesregierung und wohl auch in Ostdeutschland erzwingen. „Durch die von der EU eingeleiteten Klimaschutzmaßnahmen, die verschärften CO2-Einsparziele der Bundesregierung nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts und den weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien wird die Kohleverstromung immer unwirtschaftlicher werden.“

All das war auch schon im Bundestagswahlkampf wenige Monate vorher Stand der Dinge gewesen. Und Wüst kam politisch nicht von ganz woanders als Laschet, im Gegenteil: Er war Minister in dessen Regierung gewesen.

Fazit

Sowohl Armin Laschet als auch Olaf Scholz muss im Bundestagswahlkampf bekannt gewesen sein, dass ein Kohleausstieg 2030 nicht nur wahrscheinlich, sondern sogar kaum zu verhindern war. Sie zogen es vor, ihrer spezifischen, eher energiewendeskeptischen Wählerschaft nicht diese Realitäten darzulegen, sondern ihr in Bestätigung ihres Wunschdenkens Sand in die Augen zu streuen. Die Ministerpräsidenten der drei ostdeutschen Kohleländer tun das weiterhin.

– Der Autor Ralf Hutter arbeitet als freier Journalist und befasst sich unter anderem mit Energiethemen. –

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