Altmaier setzt Prognose zum Stromverbrauch 2030 herauf

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Seit vielen Monaten liegen die Prognosen renommierter Forschungsinstitute wie Agora Energiewende, EWI Köln oder Fraunhofer IEE zum Stromverbrauch 2030 auf dem Tisch – sie alle gehen davon aus, dass der Bedarf bis zum Ende des Jahrzehnts deutlich steigt. Das Bundeswirtschaftsministerium dagegen blieb unbeirrt: Der Verbrauch werde 2030 etwa auf dem Niveau vor der Corona-Pandemie – rund 580 Terawattstunden, mit leichten Ausschlägen nach oben und unten – liegen. Ein steigender Bedarf durch die Sektorenkoppelung werde durch Effizienzgewinne kompensiert, argumentierte das Ministerium.

Nun hat Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) die Prognose doch noch angepasst: Der Verbrauch werde auf einen Wert zwischen 645 bis 665 Terawattstunden steigen, mit einem Mittelwert von 655 Terawattstunden. Dabei stützt er sich auf erste Ergebnisse einer Studie, die Prognos im Auftrag des Ministeriums erstellt hat. Altmaier begründet die Anpassung mit den verschärften Klimazielen, die Bundestag und Bundesrat Ende Juni verabschiedet haben.

Die Korrektur hat große Bedeutung für die Energiepolitik, weil vom angenommenen Strombedarf abhängt, wie viel Photovoltaik- und Windenergie-Leistung zugebaut werden muss, um die Erneuerbaren-Ausbauziele zu erreichen. Die finale Fassung der Studie von Prognos soll im Herbst dieses Jahres vorliegen.

Die Prognos-Studie unterstellt unter anderem, dass 2030 insgesamt 14 Millionen Elektro-PKW und sechs Millionen Wärmepumpen in Betrieb sind. Dazu werden 30 Terawattstunden Strom für Wasserstoff benötigt. Das Energiewirtschaftliches Institut an der Kölner Universität (EWI) rechnet in einer Studie vom Januar 2020 dagegen mit sieben Millionen Elektroautos, 3,4 Millionen Wärmepumpen und 55 Terawattstunden Elektrolysestrom – und kommt damit auf einen Bedarf von 748 Terawattstunden, also immer noch 80 bis 100 Terawattstunden mehr als die nach oben angepasste Prognose des Bundeswirtschaftsministeriums. Die dena-Leitstudie von 2018 erwartet je nach Szenario 745 bis 886 Terawattstunden, der Bundesverband Erneuerbare Energien (BEE) 740 Terawattstunden.

„Allen war klar, dass die Annahmen der Bundesregierung unseriös sind“

Für Martin Neumann, energiepolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, ist fraglich, woher die zusätzlichen circa 15 Prozent Strom künftig kommen sollen. Es bleibe auch bei wohlwollenden Berechnungen eine große Stromlücke. „Wir brauchen endlich einen breiteren Mix an emissionsarmen Energieträgern und systemische Lösungen – Stichwort Sektorkopplung“, fordert Neumann. „Zudem müssen wir den Wasserstoffhochlauf endlich effizient angehen, die EEG-Umlage abschaffen und moderne Speichertechnologien stärker berücksichtigen – denn die Zeit drängt.“

„Es war allen klar, dass die Annahmen der Bundesregierung zum Stromverbrauch unseriös sind“, sagt Julia Verlinden, energiepolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion der Grünen. Für die Union kamen die unrealistischen Annahmen zum Stromverbrauch gerade recht, um den Erneuerbarenausbau in unverantwortlicher Weise auszubremsen, so die Politikern. „Jetzt ist es wirklich unübersehbar: der von der Koalition gedeckelte Ausbau der Erneuerbaren reicht vorne und hinten nicht, um die Klimaziele zu erreichen.“

Eine realistischere Prognose des Strombedarfs ist längst überfällig, sagt Kerstin Andreae, Vorsitzende der BDEW-Hauptgeschäftsführung. „Es ist schon seit Langem klar, dass mehr Strom benötigt wird, wenn Millionen E-Autos und Wärmepumpen auf dem Markt sind und immer mehr grüner Wasserstoff produziert wird. Die Bundesregierung hätte ihre Prognose schon viel früher anpassen können.“ Die neuen CO2-Minderungsziele des novellierten Bundes-Klimaschutzgesetzes hätten den Handlungsdruck jedoch noch einmal deutlich verschärft. So geht der BDEW von einem noch größeren Strombedarf in Höhe von etwa 700 Terawattstunden aus. „Aus unserer Sicht ist zudem ein höherer Anteil der Erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung von 70 Prozent bis 2030 erforderlich, wenn die Klimaziele erreicht werden sollen. Dadurch wird eine Anhebung der Ausbaupfade im EEG notwendig: Dies könnte für 2030 etwa 100 Gigawatt für Windenergieanlagen an Land, 11 Gigawatt für Biomasse und mindestens Gigawatt für Photovoltaik (Dach und Freifläche) bedeuten“, so Andreae.

Auch die heraufgesetzte Prognose werde der Sektorenkoppelung nicht gerecht, sagt Simone Peter, Präsidentin des Bundesverbands Erneuerbare Energie e.V. (BEE). Zudem kritisiert sie, dass der beschleunigte Ausbau der Erneuerbaren weiter auf sich warten lässt. Damit drohe eine Ökostrom-Lücke. „Die erneute Verschiebung der Festlegung konkreter Ausbauziele ist die gleichzeitige Negierung der nun getroffenen Annahmen“, so Peter. Klimaschutz, Industriestandort und die sichere Energieversorgung verlören wichtige Monate. „Spätestens ein erstes 100-Tage-Programm einer neuen Bundesregierung muss den Erneuerbaren-Turbo in allen Sektoren und für die Sektorenkopplung einschalten, zusammen mit den Ländern mehr Flächen und Genehmigungen bereitstellen und eine Akzeptanzoffensive mit und für die Bürgerinnen und Bürger starten“, sagt die BEE-Präsidentin.

Anmerkung der Redaktion: Wir ergänzen diese News laufend um weitere Statements.

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