Bundesverfassungsgericht: Klimaschutzgesetz ist in Teilen verfassungswidrig

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Erst der Beschluss der EU, die Klimaziele für 2030 zu erhöhen – und jetzt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Die nächste Bundesregierung muss die deutsche Klimapolitik erheblich nachschärfen. Im Ende 2019 verabschiedeten Klimaschutzgesetz fehlen „hinreichende Maßgaben für die weitere Emissionsreduktion ab dem Jahr 2031“, urteilen die Karlsruher Richter einstimmig. Sie geben damit mehreren Verfassungsbeschwerden statt, die unter anderem der Solarenergie-Förderverein Deutschland (SFV), Fridays for Future, der BUND, Greenpeace, die Deutsche Umwelthilfe und Germanwatch eingereicht hatten. In anderen Punkten wurden die Beschwerden aber abgewiesen.

Die Richter betonen in ihrem Urteil, dass die die Fortschreibung des Reduktionspfads der Treibhausgasemissionen ab dem Jahr 2031 im Klimaschutzgesetz nicht ausreicht, um den verfassungsrechtlich gebotenen rechtzeitigen Übergang zur Klimaneutralität zu bewerkstelligen. Sie verpflichten den Gesetzgeber, hier bis Ende 2022 nachzubessern.

Zudem stellen die Richter fest, dass das Klimaschutzgesetz hohe Emissionsminderungslasten unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030 verschiebe. Damit würden „die zum Teil noch sehr jungen Beschwerdeführenden (…) in ihren Freiheitsrechen verletzt.“ Um das Pariser Klimaziel zu erreichen, müssten die nach 2030 noch erforderlichen Minderungen immer dringender und kurzfristiger erbracht werden. „Von diesen künftigen Emissionsminderungspflichten ist praktisch jegliche Freiheit potenziell betroffen, weil noch nahezu alle Bereiche menschlichen Lebens mit der Emission von Treibhausgasen verbunden und damit nach 2030 von drastischen Einschränkungen bedroht sind“, heißt es in der Begründung des Urteils. Zur Wahrung grundrechtlich gesicherter Freiheit hätte der Gesetzgeber „Vorkehrungen treffen müssen, um diese hohen Lasten abzumildern.“

Altmaier: „Urteil ist epochal für Klimaschutz“

Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) zeigt sich trotz der herben Kritik der Verfassungsrichter an der Klimapolitik der Bundesregierung begeistert vom Urteil. Er twittert:

Daran anknüpfend twittert der Minister:

SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz weist seinen Kabinettskollegen Altmaier darauf hin, dass die Schuld für das Versäumnis beim Klimaschutz auf Seiten der CDU läge:

Der Bundestagsabgeordnete der Grünen Danyal Bayaz verweist in einem Tweet darauf, dass die Verfassungsrichter mit ihrem Urteil den Freiheitsbegriff neu definiert haben:

Wiebke Winter, Mitbegründerin der Klimaunion innerhalb von CDU und CSU, erklärte im Gespräch mit pv magazine: „Ich halte das Urteil für eine große Chance, dass wir die Energiewende jetzt noch einmal nachhaltig gestalten können. Jetzt können wir die CO2-Ziele nochmal langfristig und nachhaltig anpassen, um die Emissionen jetzt schon zu verringern und das 1,5 Grad-Ziel einzuhalten. Ich will mich nach der Wahl im Bundestag dafür einsetzen, dass wir spätestens bis 2040 klimaneutral werden.“

Der energiepolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion Martin Neumann fordert in einer Stellungnahme hingegen, dass der Staat die die kommenden Generationen nicht durch maßlose Reduktionsziele, die immer schneller eingefordert werden, grundlegend einschränken darf. „Effektiver Klimaschutz und die Vermeidung von CO2 gelingt meiner Ansicht nach nur mit Markwirtschaft, Wettbewerb und einem funktionierenden Emissionshandel als zentrales Steuerungsinstrument“, erklärt Neumann. Nicht intransparente Bestimmungen, die vor dem Bundesverfassungsgericht nicht standhalten, sondern ein CO2-Deckel und eine Verknappung von Emissionszertifikaten schüfen Generationengerechtigkeit und wirtschaftliche Verlässlichkeit. „Klimaschutz ist für uns Freie Demokraten eine Generationenaufgabe, die nur gelingen kann, wenn die erforderlichen Maßnahmen bezahlbar, verlässlich und umweltverträglich sind“, betont der Liberale.

Linken-Politiker Bernd Riexinger kommentiert auf Twitter:

Kläger prüfen weitere Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 

„Das Urteil ist ein Durchbruch“, so Professor Felix Ekardt und die Fachanwältin für Verwaltungsrecht Franziska Heß, die das Klagebündnis von SFV, BUND und vielen Einzelklägern vertreten haben. Erstmals habe eine Umweltklage vor dem Bundesverfassungsgericht Erfolg. Die Politik werde massiv nachbessern und deutlich ambitioniertere Ziele und Instrumente festsetzen müssen. „Unsere Klage hat aufgezeigt, dass grundrechtlich Nullemissionen dramatisch früher nötig sind als bisher anvisiert und das Paris-Ziel grundrechtlich verbindlich ist“, so die Juristen.

Zwar habe die Politik demokratische Entscheidungsspielräume. Diese erlaubten es verfassungsrechtlich jedoch nicht, die physischen Grundlagen menschlicher Existenz aufs Spiel zu setzen und damit auch die Demokratie zu untergraben. Genau das drohe jedoch, wenn die Klimapolitik weiter so unambitioniert bleibt. „Für das Klima ist das Urteil allerdings trotz aller Erfreulichkeit noch zu wenig, weil nicht mit der gebotenen Klarheit zeitnahe Nullemissionen eingefordert werden“, betonen Ekardt und Heß. „Ob wir zusätzlich eine Beschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einlegen, werden wir prüfen.“

Klimaschützer sprechen von „historischem Erfolg“

Germanwatch, Greenpeace und Protect the Planet sprechen in einer gemeinsamen Erklärung von einem „historischen Erfolg“. Rechtsanwältin Roda Verheyen, Vertreterin einiger der Kläger, kommentiert: „Das Bundesverfassungsgericht hat heute einen global beachtlichen neuen Maßstab für Klimaschutz als Menschenrecht gesetzt. Es hat die extreme Krisensituation beim Klimaschutz erkannt und die Grundrechte generationengerecht ausgelegt.“ Der Gesetzgeber habe jetzt einen Auftrag für die Festlegung eines schlüssigen Reduktionspfads bis zur Erreichung der Treibhausgasneutralität. Abwarten und verschieben von radikalen Emissionsreduktionen auf später sei nicht verfassungskonform. „Klimaschutz muss heute sicherstellen, dass zukünftige Generationen noch Raum haben.”

Auch Simone Peter, Präsidentin des Bundesverbandes Erneuerbare Energien (BEE), zeigt sich hoch erfreut über das Urteil. „Das Pariser Klimaschutzabkommen wurde von Bundestag und Bundesrat ratifiziert. Das Bundesverfassungsgericht unterstreicht heute den Grundsatz: Verträge sind einzuhalten“, so Peter. Dieses Urteil sei deshalb ein wichtiges Signal für den Klimaschutz und die Energiewende. „Es muss nun präzise geregelt werden, wie der Pfad zur Klimaneutralität auch nach 2030 erreicht werden kann. Klare Zielvorgaben zur Treibhausgas-Minderung sind erforderlich, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen“, sagt Peter.

Jörg Ebel, Präsident des Bundesverbands Solarwirtschaft (BSW-Solar), schätzt das Urteil ebenfalls als bahnbrechend ein: „Bisher haben alle versucht, den für den Klimaschutz notwendigen Solarzubau auf die Zeit nach 2030 zu verschieben. Das ist jetzt nicht mehr möglich. Meine Forderung ist, dass die Bundesregierung die aktuelle Überarbeitung des EEG nutzt, um die Ausbauziele drastisch heraufzusetzen. Wir brauchen zeitnah einen Zubau von rund 15 Gigawatt jährlich.“

Der BDEW sieht im Urteil des Bundesverfassungsgerichts eine Chance für eine vorausschauendere, langfristiger ausgerichtete Energiepolitik im Sinne des Pariser Abkommens – für den Ausbau der Erneuerbaren Energien, den Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft sowie eine klimaneutrale Mobilität und Wärmeversorgung. „Klar ist: Je schneller wir schon heute hierfür die richtigen Weichen stellen, desto weniger Last nehmen wir mit auf die Strecke von 2030 bis 2050“, sagt  Kerstin Andreae, Vorsitzende der BDEW-Hauptgeschäftsführung. Die Politik müsse hierzu notwendige Impulse setzen, zum Beispiel durch eine möglichst baldige Erhöhung der Ausbaupfade für Windenergie und Photovoltaik und eine Reform des Abgaben- und Umlagensystems zur Entlastung der Stromverbraucher. „Bei allen notwendigen Entscheidungen muss die Versorgungssicherheit immer mitgedacht werden“, so Andreae.

Nach Ansicht von Ingbert Liebing, Hauptgeschäftsführer des Stadtwerke-Verbandes VKU, erhöht das Urteil den Druck auf die Politik, für den Klimaschutz langfristig klare und verlässlichere Rahmenbedingungen zu schaffen. „Besonders deutlich wird: Klimaschutz heute sichert Generationengerechtigkeit der Zukunft. Deswegen brauchen wir den Mut, die Lösung für Probleme jetzt schon anzupacken. Wir können uns Abwarten und Aufschieben nicht mehr leisten“, erklärt er.

Statement der Redaktion: Wir ergänzen diesen Artikel laufend um weitere Stellungnahmen.
 

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