„Klimaneutral“ oder „Low Carbon“: politische Täusch-Begriffe, die den Klimaschutz behindern

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„Low Carbon“ ist genauso wie „Klimaneutralität“ ein Begriff der fossilen & atomaren Wirtschaft um den Ausbau der Erneuerbaren Energien zurückzudrängen, Klimaschutz vorzutäuschen und so 100% Erneuerbare Energien zu verhindern. Deren Ziel ist es die fossilen & atomaren Geschäftsmodelle weiter laufen zu lassen. Alle, die diese Begriffe als Ziele verwenden, sollten sich im Klaren darüber sein, dass sie damit die Agenda der fossilen & atomaren Wirtschaft gewollt oder ungewollt zum Teil unterstützen.

In Zeiten, wo der politische Druck auf die Entscheidungsträger in Sachen Klimaschutz zunimmt, wurden und werden neue Begriffe erfunden, die scheinbar starke Klimaschutzziele ausdrücken, in Wirklichkeit aber nur über das weitere Nichtstun hinwegtäuschen sollen. Schnell erobern solche Begriffe die öffentliche Debatte und geben den Anschein, dass es jetzt ernst mit dem Klimaschutz gemeint sei. Politische Beschlüsse werden mit diesen Begriffen geschaffen und damit der Anschein erweckt, dass es endlich ernsthaft um Klimaschutz gehen wird. In Wirklichkeit bleibt aber alles weitgehend beim Klimaschutzversagen.

Dabei fällt auf, dass viele Akteure, die diese neuen Begriffe in die Debatte werfen oder verwenden, die entscheidenden Klimaschutzziele und Aktivitäten, wie Nullemissionen oder 100% Erneuerbare Energien nicht erwähnen, obwohl diese seit langem eingefordert werden. So erlebe ich seit Jahrzehnten, dass die Forderung nach Vollversorgung mit 100% Erneuerbaren Energien (die ja knapp 70% aller globalen Klimagasemissionen vermeiden würde) genau von solchen Akteuren vermieden wird. Sie verwenden dann andere, die Öffentlichkeit blendende Begriffe, die aber immer die Fortführung des fossilen Energiesystems auf einem unbestimmt hohen Niveau beinhaltet und dieses gleichzeitig verschleiern soll.

Der neueste dieser Begriffe ist „Klimaneutral“. Dieser Begriff sagt gar nichts darüber aus, wie denn genau Klimaschutz betrieben werden soll, eben deswegen wird er wohl auch verwendet. Ist damit vielleicht gemeint, dass, wenn die Weltgemeinschaft sich klimaneutral verhalte, das Erdklima nicht weiter aufgeheizt werde? Oder ist mit klimaneutral etwa gemeint, dass man sich in der Klimaschutzdebatte neutral verhalten solle, also nicht zu forsch, aber auch nicht untätig zu sein? Definiert ist der Begriff „klimaneutral“ jedenfalls nicht. Nur was könnte denn damit gemeint sein?

Die meisten verstehen darunter, dass man in der Gesamtbilanz der Klimagasemissionen und Klimagassenken nicht bei Nullemissionen ankomme, sondern lediglich bilanziell. Das bedeutet, dass es dann immer noch Klimagasemissionen gibt, die durch negative Emissionen, also CO2-Senken kompensiert werden sollen. Viele meinen, dass dann Klimaschutz in ausreichendem Maße erfüllt sei, wenn in der Bilanz, Klimaneutralität z.B. bis 2035 oder 2050 erreicht werden solle.

Diese Denkweise akzeptiert jedenfalls die weitere Aufheizung der bereits fiebernden Erde auf mindestens 1.5°C über dem vorindustriellen Niveau. Tatsächlich sind aber heute schon die Lebensverhältnisse bei 1.1°C in einigen Weltregionen unerträglich, wie man an den vielen Wetterextremen ablesen kann, die im letzten Jahr z.B. dazu führten, dass die globale Getreideernte 30 Mio Tonnen unter dem entsprechenden Bedarf lag.

Klimaneutralität im Sinne einer ausgeglichenen Bilanz zwischen Treibhausgasemissionen und Kohlenstoffsenken bis 2035 ist jedoch nur unzureichend in der Lage, die verheerenden Folgen der Klimaerhitzung abzuwenden. Die Analysen und Berechnungen des IPCC zeigen, dass es nur eine 66 prozentige Chance gibt 1,5°C nicht zu überschreiten, selbst wenn Nullemissionen in etwa 8,5 Jahren erreicht sein werden. Klimaneutralität, insbesondere, wenn sie erst 2050 oder gar später erreicht werden sollte, greift also viel zu kurz.

Nun hat Kanzlerin Merkel auf dem Petersberger Klimaschutz Dialog letzte Woche genau diesen Begriff in die Debatte geworfen. Eine Kanzlerin, die federführend dafür verantwortlich ist, dass Deutschland seine vollkommen unzulänglichen Klimaschutzziele nicht einhält.

Sie blendete damit sogar einige applaudierende Klimaaktivisten, da sie nun für Deutschland bis 2050 Klimaneutralität einforderte. Nur scheinbar ist dies eine Verschärfung der bisher vollkommen unzulänglichen Regierungsziele, nämlich bis 2050 80 bis 95% der Klimagasemissionen zu senken. Weiterhin sollten also noch 5% bis 20% der Emissionen aus dem Verbrennen von Kohle, Erdöl, Erdgas aufrecht erhalten bleiben. Das genau soll es aber auch bei ihrem Verständnis der „Klimaneutralität“ weiter als Ziel geben. 100% Erneuerbare Energien solle es eben sogar nach 2050 weiter in Deutschland nicht geben.

So zeigt sich, dass sich die Kanzlerin, die ja schon immer die Öffentlichkeit in Sachen Klimaschutz täuschte, erneut einen neuen Begriff nutzte, um eine Verschärfung der deutschen Klimaschutzziele vorzutäuschen. In Wirklichkeit hält sie fest an den vollkommen unzulänglichen Emissionsreduktionszielen 80% bis 95% bis 2050.

Kohlenstoffsenken sind natürlich sehr wichtig. Nur sie dürfen eben nicht unzulängliche Emissionsreduktionsziele kompensieren. Sie müssen vielmehr das Ziel von Nullemissionen zusätzlich ergänzen, damit die Welt eine Chance hat, das Hitzefieber zu überwinden. Das Ziel muss sein, die Konzentration von Klimagasen in der Atmosphäre von heute 415 ppm CO2-Äquivalent wieder auf 330 ppm zu senken. Das geht nur mit Nullemission und großflächigen Kohlenstoffsenken. Das aber genau schafft Klimaneutralität à la Merkel nicht.

Es ist nicht das erste Mal, dass neue Begriffe auftauchen, die die klaren Begriffe wie 100% Erneuerbare Energien oder Nullemissionen verwässern. Als von der rot-grünen Bundestagsmehrheit – insbesondere von Hermann Scheer und mir – in den 90er Jahren die Forderung nach 100% Erneuerbaren Energien politisch vorangetrieben und insbesondere mit dem EEG auf den Weg gebracht wurde, tauchte vor allem von Seiten der EU Kommission das Ziel Low Carbon als Klimaschutzziel auf. Schnell wurde in vielen politischen Papieren klar, was Low Carbon wirklich bedeutet: Atomenergie, Erdgas, CCS, fossile Erzeugungseffizienz (also das Kohlekraftwerk mit 35% Wirkungsgrad statt mit 25% oder verbrauchsarme Verbrennungsmotoren). Erneuerbare Energien waren – in einem überschaubaren Rahmen – lediglich als zusätzliche Energiequellen vorgesehen, ohne jedoch das bestehende Energiesystem zu ersetzen.

Das Ergebnis dieser täuschenden Klimaschutzstrategie „Low Carbon“ ist bekannt: Europa und Deutschland verfehlen selbst ihre vollkommen unzulänglichen Klimaschutzziele und die bereits in den 90er Jahren erhobene Forderung nach 100% Erneuerbare Energien wurde als politisches Ziel torpediert.

— Der Autor Hans-Josef Fell saß für die Grünen von 1998 bis 2013 im Deutschen Bundestag. Der Energieexperte war im Jahr 2000 Mitautor des EEG. Nun ist er Präsident der Energy Watch Group (EWG). Mehr zu seiner Arbeit finden Sie unter www.hans-josef-fell.de. —

Die Blogbeiträge und Kommentare auf www.pv-magazine.de geben nicht zwangsläufig die Meinung und Haltung der Redaktion und der pv magazine group wieder. Unsere Webseite ist eine offene Plattform für den Austausch der Industrie und Politik. Wenn Sie auch in eigenen Beiträgen Kommentare einreichen wollen, schreiben Sie bitte an redaktion(at)pv-magazine.com

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