Die nukleare Täuschung: Atomenergie ist kein Heilsbringer für den Klimaschutz

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Spätestens seit diesem Sommer ist die Diskussion um eventuelle Laufzeitverlängerung der deutschen Atomkraftwerke wieder in vollem Gange. Es ist der Versuch den politisch bereits beschlossenen vollständigen Atomausstieg bis Ende 2022 wieder aus der Versenkung zu holen, aber selbstverständlich wird alles und ausschließlich im Sinne des Klimaschutzes gefordert.

Die Befürworter der Atomkraft berufen sich hierbei häufig auf den angeblich enormen Effekt, den ein Weiterbetrieb der Kraftwerke auf die Reduzierung der deutschen CO2-Emissionen hätte. Demnach sind beispielsweise Annahmen im Umlauf, nach denen eben jener Weiterbetrieb bis zu 10 Prozent der deutschen CO2-Emissionen jährlich einsparen könnte, einfach weil durch die am Netz bleibenden Atomkraftwerke automatisch Kohlekraftwerke vom Netz genommen werden würden. Wir müssen also einfach nur die sechs noch im Betrieb befindlichen Atomkraftwerke, die sogenannten Ger6, weiterhin betreiben und schon hätten wir dem Klima einen riesigen Gefallen getan. Doch so einfach, wie sich das so manche Nuklear-Fans vorstellen, ist es nicht.

Die Befürworter einer Laufzeitverlängerung ignorieren offensichtlich die nuklearen Gefahren, die von den Kraftwerken selbst ausgehen und das Risiko der Proliferation, ebenso, wie die Tatsache, dass nahezu kein Kernkraftwerk der Welt rentabel betrieben werden kann, sondern – nach den Zahlen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) – bestenfalls „nur“ 1,5 Milliarden Euro Verluste pro Gigawatt macht.

Dazu kommen die hohen externen Kosten, die entlang der Wertschöpfungskette entstehen, Strahlen-Emissionen bei Uranbergbau, mögliche Strahlen-Emissionen beim Betrieb, den langwierigen und technisch anspruchsvollen Rückbau, die ungeklärte Frage der langfristigen Lagerung von Atomabfällen.

Und gerade gesundheitlichen Auswirkungen der durch die Kernenergie verursachten radioaktiven Belastungen wurden und werden von Behörden, Regierungen und anderen Institutionen vertuscht, verschwiegen, kleingeredet und in wichtigen Entscheidungen pro Atom ignoriert. In einer sehenswerten Dokumentation von Arte aus dem letzten Jahr wurde hervorragend zusammengetragen, wie Atomlobby, Regierungen, Behörden und Forschungseinrichtungen zusammenarbeiten, um das wahre Ausmaß der radioaktiven Folgen nicht offensichtlich werden zu lassen. Die Dokumentation liefert eine umfassende historische Untersuchung von hundert Jahren Radioaktivität, erinnert an ihre Opfer, von den Eheleuten Curie bis Fukushima, und deckt die Lügen der Atomindustrie auf.

Die Dokumentation wird am kommenden Sonntag, 23. August 2020 um 12:25 Uhr erneut gesendet. Sie ist für alle zu empfehlen, die immer noch glauben, Atomenergie sei ein kleineres Übel gegenüber der Klimakatastrophe.
Doch auch wenn man alle diese schlimmen Auswirkungen der Radioaktivität ignoriert, würde ein Weiterbetrieb der Ger6 nicht einmal dem Klima helfen.

Das CO2-Einsparpotential der Ger6 wird massiv überschätzt

Selbst unter günstigsten (unrealistischen) Bedingungen, also nahezu durchgehend unter Volllast laufenden Kraftwerken, wären die Ger6 lediglich dazu in der Lage ca. 32 Millionen Tonnen CO2 einzusparen. Gemessen an den jährlichen deutschen gesamten CO2-Emissionen (751 Millionen Tonnen), sind das also nur ca. 4 Prozent und nicht die vielfach behaupteten 10 Prozent. Dieser Anteil 4 Prozent ist etwas höher, wenn man das Einsparpotenzial ausschließlich auf den Stromsektor bezieht (223 Millionen Tonnen).

Das CO2-Einsparpotenzial der Ger6 ist nur von kurzer Dauer

Die derzeit noch laufenden Atomkraftwerke gingen zwischen 1985 und 1988 ans Netz und für alle ist ein Betrieb von rund 40 Jahren vorgesehen, ob mit oder ohne Atomausstieg. Das heißt, laut Hersteller sollten diese Kraftwerke ohnehin zwischen 2025 und 2028 vom Netz gehen. Selbst davon ausgehend, dass alle Kraftwerke bis 2028 am Netz bleiben, würde sich das jährliche Einsparpotential von 32 Millionen Tonnen CO2 nur über sechs bis sieben Jahre erstrecken. Denn jede weitere Laufzeitverlängerung wäre mit enormen Kosten und Risiken verbunden, um den (nie ganz) sicheren Betrieb zu gewährleisten, die Kraftwerke zu warten und Instand zu halten. Die Reaktoren über das Jahr 2028 (bzw. 2025) weiterhin zu betreiben, würde erhebliche zusätzliche Kosten für die technische Ertüchtigung bedeuten, die schnell die Kosten für neue Wind- und Solarkraftwerke übersteigen würden und anderweitig investiert, wesentlich effektiver CO2 einsparen könnten.

Das CO2-Einsparpotenzial der Ger6 nimmt mit der Zeit ab

Es ist noch einmal wichtig hervorzuheben, dass die oben erwähnten 4 Prozent nur zustande kommen, wenn alle sechs Reaktoren über das ganze Jahr hinweg unter nahezu Vollauslastung (90 Prozent) laufen. Doch schon allein diese Annahme ist im Vorhinein bereits fraglich. Denn die Ger6 werden derzeit nicht darauf vorbereitet ab 2022/23 weiterhin unter Volllast zu laufen, obwohl dies – im Falle einer Laufzeitverlängerung – geschehen müsste.

Darüber hinaus lässt sich die Rechnung, 1 Megawattstunde (MWh) Atomstrom ersetzt 1 MWh Kohlestrom, nicht so einfach aufstellen. Es ist vielmehr so, dass der Atomstrom mit steigendem Anteil der erneuerbaren Energien zunehmend auch eben jene aus dem Netz verdrängen würde oder umgekehrt. Das CO2-Einparpotenzial sinkt demnach sukzessive ab, je mehr Erneuerbare ans Netz kommen, denn auch die Leistung der AKW wird in Wind- und Solar-Volllastzeiten gedrosselt. Innerhalb der kommenden 10 Jahre wird dies massive Auswirkungen haben. Das Einsparpotenzial wird sich also mehr in Richtung ein bis zwei Prozent der gesamten CO2-Emissionen bewegen.

Möglicher CO2-Effekt der Ger6 ist nicht begrenzt auf Deutschland

Es gibt noch einen weiteren entscheidenden Grund, warum 1 MWh deutschen Atomstroms nicht einfach 1MWh deutschen Kohlestroms einfach ersetzt: Den Stromhandel. Um nämlich im Stromhandel Kohlekraftwerke zu ersetzen, müssen die Atomkraftwerke, die Kohlekraftwerke unterbieten, was wiederum zu niedrigeren Strompreisen im Großhandel führt. Insgesamt ist es wahrscheinlich, dass dabei weniger die neueren deutschen, sondern eher alte polnische Kohlekraftwerke ersetzt werden, da diese im Betrieb teurer sind. Deswegen würde der deutsche Atomstrom viel wahrscheinlicher auch polnischen Kohlestrom ersetzen.

Ein CO2-Einspareffekt würde sich somit auf den ganzen europäischen Strommarkt beziehen und nicht ausschließlich in Deutschland wirksam werden. Das ist für den Klimaschutz zwar irrelevant, schließlich ist es egal, an welcher Stelle Emissionen eingespart werden, aber es ist ein weiterer Faktor, der das deutsche CO2-Einsparpotenzial erheblich verringert. Zusätzlich wird durch niedrigere Strom-Preise der gesamte Verbrauch an Strom absehbar steigen, so dass auch auf europäischer Ebene nicht nur Kohlekraft ersetzt würde, sondern auch zusätzlicher emissionsträchtiger Verbrauch entstehen könnte.

Wer finanziert die Laufzeitverlängerung der Ger6?

Der Atomausstieg ist seit nun neun Jahren beschlossen und mittlerweile haben sich alle drei betroffenen Energiekonzerne (RWE, EnBW und PreussenElektra beziehungsweise Eon) damit arrangiert und darauf eingestellt, die letzten Kraftwerke am 31.12.2022 vom Netz zu nehmen. Darauf sind alle Kosten- und Betriebspläne der Konzerne ausgelegt. Aufgrund der notwendigen Kosten für einen Weiterbetrieb (siehe oben), der zusätzlich notwendigen Rücklagenbildung für die Lagerung des zusätzlichen Atommülls und der nur geringfügig längeren Laufzeit (4 bis 6 Jahre) kann keine der Betreiberfirmen an einem Weiterbetrieb interessiert sein.

Hinzu kommt die in Deutschland unsichere politische Situation, nach der eine jetzt getätigte Laufzeitverlängerung in der darauffolgenden Legislaturperiode wieder gekippt werden kann. Aufgrund all der bereits genannten Faktoren ist Deutschland auch kein Standort für internationale Investitionen in Atomenergie.

Da ein Weiterbetrieb privatwirtschaftlich höchst unwahrscheinlich ist, gäbe es nur eine Alternative: Ein Staatlicher Atomkonzern. Demnach müsste der Staat finanzielle Sicherheiten in Milliardenhöhe bereitstellen und alle Wartungs- und Überholungsarbeiten (nötig für den Weiterbetrieb ab 2022/23, geschweige denn über 2028 hinaus) ebenfalls mit Steuergeldern bezahlen, zusätzlich zu den Kosten für die Lagerung des anfallenden Atommülls. Eine derartiger Weiterbetrieb durch eine staatliche Betreibergesellschaft steht also auch vor enormen Hürden. Und das alles nur, um mit Milliarden-Ausgaben über eine kurze Zeitspanne jährlich etwa zwei Prozent CO2-Emissionen einzusparen (wenn überhaupt). Mit erneuerbare Energien geht das viel kosteneffizienter.

Es bleibt zu hoffen, dass sich die Advokaten der Kernenergie nicht durchsetzen werden und der Ausstieg aus der Kernenergie wie geplant bis zum 31.12.2022 vollständig vollzogen wird. Denn ein Weiterbetrieb wäre lediglich ein Sieg für die Atom-Lobby, aber keiner für den Klimaschutz.

 

— Der Autor Hans-Josef Fell saß für die Grünen von 1998 bis 2013 im Deutschen Bundestag. Der Energieexperte war im Jahr 2000 Mitautor des EEG. Nun ist er Präsident der Energy Watch Group (EWG). Mehr zu seiner Arbeit finden Sie unter www.hans-josef-fell.de. —

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