Der deutsche Strommarkt in schweren Zeiten: Ist die Merit-Order Fluch oder Segen?

Teilen

Die Strompreise explodieren seit Sommer 2021, aktuell werden in Deutschland astronomische Preise von den Stromverbrauchern verlangt. Die Volkswirtschaft erleidet einen ökonomischen Schock, der einerseits hausgemacht ist und andererseits von außen importiert wurde.

• Die Folgen der energiepolitischen Entscheidungen der CDU-geführten Bundesregierungen in den Jahren 2005 bis 2021 (Atompolitik, Verhinderung der erneuerbaren Energien) zeigten sich als hausgemachtes Problem erstmals im Sommer 2021 am Markt, als die Börsenpreise kurzfristig auf über 20 Cent pro Kilowattstunde stiegen.
• Mit dem Angriff der Russischen Föderation auf das Nachbarland Ukraine wurde die Versorgung mit Erdgas durch Gazprom zur strategischen Waffe, um die Energiemärkte in Europa in Unordnung zu bringen.

Der Strompreis wird in Deutschland an der Börse über die sogenannte Merit-Order gebildet, um einen einheitlichen Strompreis zu bestimmen. Als Merit-Order (englisch für Reihenfolge der Vorteilhaftigkeit) bezeichnet man die Einsatzreihenfolgen von Kraftwerken. Diese werden durch die Grenzkosten der Stromerzeugung bestimmt. Die Grenzkosten beschreiben dabei die inkrementellen Kosten, die durch die Produktion einer weiteren Megawattstunde Strom bei den Kraftwerken entstehen würde.

So ergibt sich folgendes Schaubild 1, das auch für jede andere Zeiteinheit (Jahr, Monat, Tag, Stunde) erstellt werden kann. Auf der Abszisse (X-Achse) werden die verfügbaren/angebotenen Kapazitäten der jeweiligen Kraftwerke aufsteigend nach den entsprechend angebotenen Grenzkosten sortiert. Auf der Ordinate (Y-Achse) sind die Grenzkosten in Euro pro Megawattstunde angegeben.

Schaubild 1: Schematische Darstellung der Merit Order.

Grafik: Kai-Wilfrid Schröder

Im zweiten Schritt wird der Marktbedarf (Nachfrage) in das Schaubild 1 eingetragen. Diejenige Kapazität, die die letzte Megawattstunde liefert, um den Strombedarf zu decken, bestimmt nun den Markträumungspreis. Alle Kapazitäten, die sich im Schaubild links von der markträumenden Produktionskapazität befinden, werden zur Versorgung des Marktes herangezogen und profitieren von dem Markträumungspreis, der von der letzten Kapazität angeboten wurde. Alle Kapazitäten, die sich rechts von der markträumenden Produktionskapazität befinden werden nicht berücksichtigt und stehen still.

Dieses Preisbildungssystem belohnt in einem Markt alle Produzenten, die Energie günstiger als zum Marktpreis produzieren können, und ermöglicht damit diesen Produzenten höhere Verkaufspreise, als sie eventuell in einer direkten Lieferbeziehung hätten durchsetzen können. Höhere Gewinne (als gesellschaftlich akzeptierte) können somit bei den Kraftwerken mit niedrigen Grenzkosten entstehen. Das erleben wir derzeit auch am Markt, da die großen Versorger hohe Gewinne bei der Energieversorgung berichten. Aber auch Produzenten mit erneuerbaren Energien erleben derzeit phantastische Renditen. Photovoltaikanlagen, die mit 5 Cent pro Kilowattstunde geplant worden sind, erzielen derzeit an der Börse EEX Preise von bis zu 50 Cent pro Kilowattstunde.

Der Marktpreis ist eine extrem wichtige Information für eine Volkswirtschaft, da der Marktpreis verschiedene Funktionen innehat. Zu den wichtigsten Funktionen gehören:

MarkträumungsfunktionAngebot und Nachfrage kommen zum Ausgleich. Zum Gleichgewichtspreis wird die gesamte Nachfrage bedient.
SignalfunktionDer Marktpreis informiert über die Knappheit der Energie am Markt.
LenkungsfunktionDie Energie wird nur von den Verbrauchern nachgefragt, die sich den hohen Preis auch leisten können.

Der volkswirtschaftlichen Theorie liegt ein ungestörter Markt zugrunde, in den der Staat nicht eingreift. Zudem können die Anbieter und Nachfrager schnell auf Preisänderungen reagieren, da sie vollkommen über die aktuelle Lage informiert sind. Damit können sie den Markt bei Veränderungen wieder in ein gewünschtes Gleichgewicht zu bringen.

Diese grundlegenden Voraussetzungen für einen vollkommenen Markt liegen auf dem deutschen Strommarkt nicht vor, da der Staat elementar in den Markt eingegriffen hat und Angebot und Nachfrage durch langlaufende Verträge zeitlich entkoppelt sind. Folgende Störungen liegen vor:

Einspeisevorrang der erneuerbaren EnergienZur Förderung der erneuerbaren Energien verfügte der Staat einen Einspeisevorrang der erneuerbaren Energien vor den fossilen Energieträgern und änderte somit die Merit-Order der Kraftwerke.
Regulierte (künstliche niedrige Grenzkosten der erneuerbaren EnergienDie sehr hohen Grenzkosten der erneuerbaren Energien (Photovoltaik erhielt zum Beispiel mehr als 40 Cent pro Kilowattstunde zu Beginn der 2000er Jahre) wurden aus der Preisbildung der Merit-Order herausgenommen, um den Marktpreis nicht steigen zu lassen. Der Unterschiedsbetrag zum Markträumungspreis wurde über die EEG-Umlage vom Verbraucher finanziert.
Flexibilität des AngebotesNicht alle Kraftwerke können kurzfristig in Betrieb gehen oder außer Betrieb genommen werden, um auf die Nachfrageveränderungen zu reagieren. Ein Kraftwerksbau, je nach Technik, dauert Monate bis Jahre.
Flexibilität der NachfrageDie Nachfrage nach Strom ist starr, da die meisten Kunden feste Preise in ihren Lieferverträgen haben und reagieren somit nicht direkt auf die veränderte Angebotslage und auf die veränderten Marktpreise. Es ist politischer Wille, dass Energie als allgemein verfügbares Gut für alle Bürger des Landes zur Verfügung steht.  Die Signal- und Lenkungsfunktion ist damit außer Kraft gesetzt.
KonzernbildungDie großen Stromversorger betreiben verschiedene Stromerzeugungstechnologien (Atom, Kohle, Gas, Erneuerbare) und können somit das Angebot künstlich verteuern. Durch den Einsatz von Gaskraftwerken kann somit die Gewinnmarge der übrigen Technologien beeinflusst werden. Es kann daher sinnvoll sein, ein Prozent weniger Strom aus Erneuerbaren zu produzieren, um ein Prozent mehr aus Gas zu produzieren, da der höhere Preis für Gas allen Erzeugungsarten zu Gute kommt.

Da die grundlegenden Voraussetzungen zur Anwendung der Merit-Order in Deutschland nicht vorliegen, sollte dieser Preisbildungsmechanismus schnellstens an die Realität angepasst werden. Welche Maßnahmen würden schnell wirken, um jetzt den Markt zu entlasten?

1. Bei der modifizierten Merit-Order wird die Stromerzeugung mit Gas nicht bei der Preisbildung des Markträumungspreises berücksichtigt. Sofern Gas zur Stromerzeugung eingesetzt würde, würde diese Stromproduktion nur zum Markträumungspreis der modifizierten Merit-Order vergütet.

2. Bei der Pay-as-you-bid Preisbildung erhält jeder Anbieter genau seinen angebotenen Preis und nicht den einheitlichen Markträumungspreis.

Beide Methoden könnten umgehend hands-on an der Börse umgesetzt werden und würden damit direkt zur Marktberuhigung beitragen. Dazu bräuchte es noch nicht einmal die Unterstützung der politischen Akteure. An der Börse könnten die verantwortungsvollen Marktakteure dieses Prinzip auch alleine umsetzen.

Die Kraftwerksbetreiber (erneuerbare Energien wie auch fossile Energien) sollten sich daran erinnern, dass sie mit den aktuell hohen Preisen und den damit verbundenen Gewinnen langfristig das Land deindustrialisieren und somit in Zukunft weniger Nachfrage am Markt sein wird. Mit erneuerbaren Energien und Speichersystemen ist Erneuerbare-Energien-Branche in der Lage, nachhaltige Energie für 8 bis 10 Cent pro Kilowattstunde bereitzustellen.

Deutschland ist ein energie-intensives Land, das langfristig günstige Preise für Energie benötigt, um die industrielle Produktion zu erhalten. Werner von Siemens hatte bereits 1884 erkannt:
„Für den augenblicklichen Gewinn verkaufe ich nicht die Zukunft“.

Der Autor Kai-Wilfrid Schröder hat jahrelange Erfahrung in der Projektentwicklung von Erneuerbare-Energien-Projekte für die Stromeigenversorgung. Aufgrund vieler bekanntgewordener Projektentwicklungsfehler aus Projekten im Bereich der erneuerbaren Energien hat Kai-Wilfrid Schröder mit einem Ingenieurteam die Beratungsfirma Utility Consultants gegründet, die technische und kaufmännische Analysen für Geldanleger und Investoren in den erneuerbaren Energien anbietet. Der fachkundige Rat soll den privaten Investor vor Fehlentscheidungen in eine Investition oder eine Geldanlage schützen. Mehr Informationen finden Sie unter http://www.utility-consultant.de/

Die Blogbeiträge und Kommentare auf www.pv-magazine.de geben nicht zwangsläufig die Meinung und Haltung der Redaktion und der pv magazine group wieder. Unsere Webseite ist eine offene Plattform für den Austausch der Industrie und Politik. Wenn Sie auch in eigenen Beiträgen Kommentare einreichen wollen, schreiben Sie bitte an redaktion@pv-magazine.com.

Dieser Inhalt ist urheberrechtlich geschützt und darf nicht kopiert werden. Wenn Sie mit uns kooperieren und Inhalte von uns teilweise nutzen wollen, nehmen Sie bitte Kontakt auf: redaktion@pv-magazine.com.