Wir brauchen keine 100 Prozent Erneuerbare!

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Die Notwendigkeit einer möglichst vollständigen Versorgung unseres Energiebedarfs aus erneuerbaren Energieträgern wie Sonne, Wind, Wasser und Biomasse steht zum Glück schon seit längerer Zeit nicht mehr generell zur Debatte. Auch die größten Ignoranten und Verteidiger der alten Energiewirtschaft, basierend auf der Ausbeutung fossiler Ressourcen, haben mittlerweile eingesehen, dass die Vorräte an Kohle, Öl und Uran endlich sind und dass deren Ablösung notwendig ist. Allein über die Dringlichkeit und die Geschwindigkeit der Energiewende ist man sich noch uneinig.

Ich komme gerade zurück aus Kassel, wo ich an einer sehr interessanten, von den Energiebloggern organisierten Veranstaltung teilgenommen habe – dem Barcamp Renewables 2016. In den Räumen der Solar Academy, die dankenswerterweise von SMA zur Verfügung gestellt wurden, diskutierten Teilnehmer aus allen Disziplinen der Energie- und Umwelttechnik, sowie IT-Spezialisten über die Digitalisierung der Stromnetze und die Energiewende in Bürgerhand.

Der Tenor der Teilnehmer des Barcamps: Wenn man allein der Politik und der Wirtschaft, also den großen Energieversorgern die Umsetzung überließe, würde die Energiewende scheitern. Viel zu langsam gehe die Transformation vor sich um auch nur annähernd die selbst gesteckten Klimaschutzziele zu erreichen. Allerdings gäbe es in der Bevölkerung und in der Wirtschaft noch zu große Vorbehalte gegenüber einem schnellen Ausbau der Erneuerbaren, Versorgungssicherheit und vor allem Kosten seien dabei die zentralen Themen.

Man machte sich in Kassel daher Gedanken über Argumente und Kommunikationsstrategien, um die allgemeine Akzeptanz für einen schnelleren Wandel zu erhöhen. – Dass man sich auf keinen Fall bereits zufrieden zurücklehnen und abwarten kann, dass zeige eine Untersuchung von Volker Quaschning, Professor an der HTW Berlin. Wenn in Deutschland die Energiepolitik so fortgesetzt würde wie bisher, hätte man bei dem aktuellen Ausbautempo erst im Jahre 2150 eine vollständige Versorgung aus erneuerbaren Energieträgen und damit die Energiewende vollendet.

Nachdem ich mir die verschiedenen Vorträge angehört und an diversen Diskussionen teilgenommen habe, drängt sich mir der Gedanke auf: Warum müssen wir eigentlich 100 Prozent Erneuerbare bis 2050, besser noch bis 2030 erreichen? Wir Europäer, insbesondere die Deutschen, wollen immer 100 Prozent erreichen – alles muss perfekt sein! In der übrigen Welt versteht das kein Mensch. Was im Leben ist schon hundertprozentig erledigt? Warum geben wir uns nicht mit weniger zufrieden, um unsere Ziele schneller zu erreichen? Ist nicht genau das das größte Dilemma unseres Daseins?

Wie fast in allen Bereichen gilt hier das Pareto-Prinzip – ein großer Teil einer Aufgabe ist mit vertretbarem Aufwand relativ schnell erledigt. Die letzten Prozent bis zur Perfektion sind jedoch nur mit unglaublich hohem Aufwand – Zeit und Kosten – zu erreichen und daher unwirtschaftlich. Das schreckt ab!

Um ein Beispiel aus der Solartechnik zu verwenden, betrachten wir ein Photovoltaik-Inselsystem. Kein Techniker und erst recht kein Ökonom würde dabei zu einer 100 prozentigen Autarkie raten, da diese beim heutigen Stand der Technik kaum realisierbar und finanzierbar ist. Warum also nicht auf die letzten Prozentpunkte verzichten und stattdessen auf konventionelle Energieträger setzen oder aber eine Versorgungslücke akzeptieren?

Auch in der Kommunikation der Energiewende sehe ich viele Vorteile, wenn die Forderung auf 99 Prozent Erneuerbare reduziert wird. Vertriebsprofis und Marketingstrategen haben schon lange erkannt, dass man Produkte für 0,99 Euro besser verkaufen kann als für einen glatten Euro. Eine kleine kosmetische Änderung am Label verändert die Wahrnehmung des Konsumenten und damit die Akzeptanz enorm.

Wir Solaraktivisten und Kämpfer für ein schnelles Ende der Energieerzeugung aus Kohle, Öl und Atom sollten daraus lernen und fortan eine 99 prozentige Versorgung aus Erneuerbaren propagieren. Ist das erst einmal zuverlässig erreicht, wird sich der Rest irgendwann von selbst erledigen – vielleicht auch erst 2150 – aber das ist dann nicht mehr bedrohlich.

— Der Autor Martin Schachinger beschäftigt sich seit mehr als 20 Jahren mit dem Thema Photovoltaik und Regenerativen Energien im Allgemeinen. Er ist innerhalb der Photovoltaik-Branche bestens vernetzt, was nicht zuletzt auf sein kontinuierliches Engagement für die internationale Online-Handelsplattform für Solarkomponenten www.pvXchange.com zurückzuführen ist, welche er 2004 zusammen mit zwei Partnern ins Leben rief. Dort wird ein breites Spektrum an Markenprodukten, Neu- und Gebrauchtware mit unterschiedlichsten Spezifikationen angeboten. —

Die Blogbeiträge und Kommentare aufwww.pv-magazine.de geben nicht zwangsläufig die Meinung und Haltung der Redaktion und der pv magazine group wieder. Unsere Webseite ist eine offene Plattform für den Austausch der Industrie und Politik. Wenn Sie auch in eigenen Beiträgen Kommentare einreichen wollen, schreiben Sie bitte anredaktion(at)pv-magazine.com.

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