Grünstrom vs. Graustrom – ein unterschätztes Risiko für Glaubwürdigkeit und Klimaschutz

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Die Unterscheidung zwischen grünem Strom aus erneuerbaren Quellen und grauem Strom aus fossiler oder nuklearer Erzeugung ist zentral für die Energiewende. Sie betrifft Klimapolitik, Unternehmensstrategien und den Verbraucherschutz gleichermaßen. Doch das System, das diese Trennung sicherstellen soll, ist anfällig für Missbrauch. Ohne präzise Nachweis- und Zuordnungsmechanismen droht ein Szenario, in dem „grün“ oft nur auf dem Papier existiert – und Greenwashing zum Standard wird.

Zertifikate: Rechtlich korrekt, praktisch entkoppelt

In der Praxis erfolgt der Herkunftsnachweis heute fast ausschließlich über digitale Zertifikate wie „Guarantees of Origin“ (GO), „Renewable Energy Certificates“ (REC) oder nationale Register. Diese Dokumente belegen rechnerisch, woher der Strom stammt – sind jedoch häufig von Ort und Zeit der tatsächlichen Erzeugung abgekoppelt.
Besonders problematisch sind sogenannte „unbundled certificates“: Hier wird der Grünstrom rechnerisch zugeordnet, ohne dass physisch tatsächlich erneuerbare Energie zum Endverbraucher gelangt. Ein Unternehmen kann damit offiziell 100 % Grünstrom ausweisen, während der physische Strommix aus der Steckdose weiterhin fossile Anteile enthält. Legal, aber irreführend.

Überbuchung, Mehrfachvermarktung und „Phantom-Zertifikate“

In mehreren Märkten wurden bereits mehr Zertifikate verkauft, als erneuerbare Energie tatsächlich produziert wurde. Ursachen sind fehlerhafte IT-Systeme, unzureichende Auditierungen, mangelhafte Registrierung und fehlende Synchronisierung zwischen internationalen Systemen. So entstehen „phantom certificates“, die keinen realen Stromfluss abbilden. Der finanzielle Anreiz zur Manipulation steigt – und mit ihm das Risiko, dass Investitionen in Grünstromzertifikate keinen realen Klimanutzen bringen.

Betrugsfälle aus der Praxis

Europaweit gab es Fälle, in denen Zertifikate für nicht betriebene Anlagen ausgestellt oder dieselbe Erzeugung mehrfach verkauft wurde. Auch im Bereich Elektromobilität wurden Ladestationen als „grün“ vermarktet, obwohl der gelieferte Strom nicht aus erneuerbaren Quellen stammte. Strafverfahren und Schadensfälle in Millionenhöhe zeigen, dass es sich nicht um theoretische Risiken handelt.

Batteriespeicher und das Ausschließlichkeitsprinzip

Mit dem Ausbau von Photovoltaikanlagen rücken Batteriespeicher stärker in den Fokus. Grundsätzlich ist auch ein Speicher mit Netzbezug zulässig – die Bundesnetzagentur muss einen Anschluss bereitstellen.
Für die EEG-Förderung gilt jedoch das Ausschließlichkeitsprinzip: Sobald ein Speicher neben Solarstrom auch Graustrom aufnimmt, verliert der gespeicherte Grünstrom seine Förderfähigkeit. Die Installation ist weiterhin erlaubt, aber nicht mehr als „Grünstromspeicher“ zertifizierbar.

Das EEG 2024 schafft zwei neue Berechnungsoptionen:

  1. Abgrenzungsoption – genaue technische Messung, welche Strommengen grün und welche grau sind. Hoher Aufwand, verbindlich spätestens ab 2026.
  2. Pauschaloption – vereinfachte, standardisierte Werte für Speichergröße und Leistung. Praktisch bei geringem Messbudget.

Beide Verfahren sind als Übergangslösungen gedacht, bis ein einheitliches, technisch und juristisch belastbares System existiert.

Das Kernproblem: fehlende physische Kopplung

Das größte strukturelle Defizit liegt darin, dass digitale Zertifikate nicht physisch mit dem realen Stromfluss im Netz verbunden sind. Daraus ergeben sich mehrere Risiken:

  • Falsche oder doppelte Buchungen
  • Mehrfachvermarktung derselben Strommenge
  • Schlechte oder fehlende Audits
  • Internationale Lücken bei der Synchronisierung

Solche Schwachstellen öffnen Betrug und Greenwashing Tür und Tor – und untergraben das Vertrauen in die Wirksamkeit der Energiewende.

Lösungsansätze für ein fälschungssicheres System

Um die Glaubwürdigkeit zu sichern, sind technische, regulatorische und kommunikative Verbesserungen nötig:

  • Technische Innovationen
    Blockchain-basierte Systeme könnten jede erzeugte Kilowattstunde mit Zeit- und Ortsstempel dokumentieren, unveränderlich speichern und jederzeit überprüfbar machen.
  • Datenintegrität
    Verknüpfung von Smart-Meter-Daten mit digitalen Signaturen und automatisierten Qualitätsprüfungen, um fehlerhafte oder doppelte Zertifikate frühzeitig zu erkennen.
  • Regulatorische Maßnahmen
    Verpflichtende externe Audits, strengere Prüfverfahren und internationale Harmonisierung, um grenzüberschreitende Zertifikatstransfers zu kontrollieren und Missbrauch konsequent zu sanktionieren.
  • Transparenz für Verbraucher und Unternehmen
    Eindeutige Kennzeichnung, ob ein Grünstromversprechen auf physischer Lieferung oder nur auf bilanzieller Zuordnung beruht.

Das aktuelle System ist zu leicht manipulierbar

Wenn in manchen Märkten rechnerisch mehr Grünstrom verkauft als tatsächlich produziert wird, ist das ein direkter Angriff auf die Glaubwürdigkeit der Energiewende.
Die Lösung liegt in einer engeren Verbindung von digitalem Nachweis und physischem Stromfluss, kombiniert mit moderner Messtechnik, Blockchain, Echtzeit-Auditierung und klaren internationalen Standards.
Nur so lässt sich sicherstellen, dass „grün“ auch wirklich grün ist – und Greenwashing nicht länger ein lukratives Geschäftsmodell bleibt.