Manchmal reicht Intelligenz allein auch nicht aus

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Replik auf den Beitrag „Maschinelles Lernen ist Schlüsselfaktor für intelligentes Laden“ von Christopher Hecht, Jan Figgener und Dirk Sauer vom Lehrstuhl für Elektrochemische Energiewandlung und Speichersystemtechnik der RWTH Aachen

15 Millionen batterieelektrische Fahrzeuge  bedeuten eine nie dagewesene Herausforderung für die Betreiber von Verteilnetzen. Diese Herausforderung besteht weniger in dem enormen Speichervolumen von einer Terrawattstunde jährlich, sondern vielmehr in dem damit verbundenen Leistungsbedarf im Verteilnetz. Bisher war eine Leistung von circa 4 Kilowatt ausreichend, um ein Einfamilienhaus zu jeder Zeit des Tages mit ausreichend Strom zu versorgen. Das Schnellladen eines Elektroautos benötigt hingegen bis zu 22 Kilowatt Leistung, wenn dieses Auto in der vom Hersteller versprochenen Ladezeit wieder mit voller Batterie bereitstehen soll.* Dieser um ein Vielfaches höhere Leistungsbedarf der heute zugelassenen halben Million reinen Elektroautos und auch für deren wachsende Anzahl in naher Zukunft stellt noch kein Problem für die Verteilnetze dar. Das Ziel von 15 Millionen solcher Fahrzeuge allerdings schon.

Genau wie heute herkömmliche Autos nicht alle zur gleichen Zeit an der Tankstelle stehen, werden auch Elektrofahrzeuge nicht alle zur selben Zeit laden müssen. Die größere Flexibilität im Ladestrombedarf kann den Verteilnetzbetreibern helfen, ihre Netze zunächst effizienter auszulasten und somit notwendigen Netzausbau eher später anzugehen. Hinzu kommt noch das völlig neue Potenzial, die gespeicherte Energie ungenutzter BEV vorübergehend „anzuzapfen“, um Netzengpässe auszugleichen. Insgesamt ist diese Flexibilität zurzeit aber noch eine Planungsgröße mit vielen Unbekannten.

Die Autoren der RWTH Aachen weisen zurecht darauf hin, dass eine zentrale Planung der zur Verfügung stehenden Flexibilität aus Elektroautos nicht realistisch ist. Durch künstliche Intelligenz (KI) gesteuerte Prognosen können die Planung sicher unterstützen. Gerade, weil bisher jegliche Erfahrung fehlt, auf deren Grundlage Netzbetreiber mit Hilfe von Statistik planen könnten, ist eine gute und verlässliche Prognose extrem wertvoll. Es bleibt jedoch bei dem beschriebenen Mangel an zur Verfügung stehendem Potenzial. Hier muss früher angesetzt werden. Zum einen müssen die Kunden „abgeholt“ werden und die grundlegende Bereitschaft geschaffen werden, sich überhaupt dem Thema Flexibilität zu öffnen. Die von der Autoindustrie und der alten Bundesregierung geschürte Angst vor der nicht möglichen spontanen Fahrt ins Krankenhaus ist noch zu präsent. Ohne grundlegende Aufklärung über die Wirkung verschiedener Steuerungsinstrumente ist jedes auf völlige Freiwilligkeit setzende Instrument zum Scheitern verurteilt. Zum anderen muss den Verteilnetzbetreibern ein „Plan B“ zur Verfügung stehen, wenn diese Steuerungsinstrumente letztlich nicht ausreichen sollten und doch ein gefährlicher Netzengpass droht.

Es hilft nicht, hier auf das Potenzial von Kraftwerken und Demand Response von industriellen Prozessen zu setzen. Unter dem Sicherheitsaspekt kämen hier nur konventionelle Kraftwerke in Betracht, die im zukünftigen Energiemix mit 80 Prozent erneuerbaren Energien sowieso kaum noch eine Rolle spielen sollen. Diese so genannten Spitzenlastkraftwerke sind schon heute ein teures Vergnügen. Demand Response, also die Flexibilität industrieller Prozesse, ist ebenso ein riskantes Geschäft. Sie setzt ähnlich wie Energie aus Wind und Sonne voraus, dass sie genau zu dem Zeitpunkt, wo sie benötigt wird, auch wirklich zur Verfügung steht. Beide Ideen sind außerdem mit dem Problem konfrontiert, dass Kraftwerke und Industrie ähnlich wie Wind- und Solarparks ihren Standort selten dort haben, wo der Bedarf im Verteilnetz entsteht. Schon heute fehlen große Übertragungsleitungen, der Bedarf an diesen würde noch erheblich verstärkt.

Bevor die von den Autoren beschriebene KI ihre Wirkung in der Prognose entfalten kann, sind zwei wesentliche Aufgaben zu bewältigen:

Erstens müssen alle zur Verfügung stehenden Kräfte in den Rollout der intelligenten Messsysteme gesteckt werden. Diese stellen die einzige, anerkannt sichere Datenquelle für die Steuerung der Verteilnetze dar. Aus gutem Grund sieht der Gesetzgeber für diese so genannten energiewirtschaftlich relevanten Daten und die in Gegenrichtung fließenden Steuersignale das Smart Meter Gateway als einzig akzeptablen Kommunikationskanal vor. Mobilitätsdaten, die über die Telematik von Elektroautos erhoben werden, mögen eines Tages die Prognosealgorithmen der KI unterstützen können. Eine Alternative zum Smart Meter Gateway sind sie nicht. Auch für notwendige Steuerbefehle ist das intelligente Messsystem mit Gateway und der hierfür entwickelten Steuerbox alternativlos. Die bisherigen, veralteten Steuerungssysteme wie Rundsteuerung funktionieren nach dem Prinzip der Postwurfsendung. Steuersignale werden ohne jedes Feedback an die Empfänger ausgesandt. Danach kommt das Prinzip Hoffnung, dass diese Signale rechtzeitig ihren Empfänger erreichen mögen und dieser sie auch verarbeitet. War dieses System für die bisher im Verteilnetz durchgeführte Steuerung von zum Beispiel Nachtspeicherheizungen oder Tarifumschaltungen mehr als ausreichend, erfordern das Volumen und die zeitliche Brisanz der Steuerung von 15 Millionen Elektroautos eine deutlich andere Qualität der Steuerungssysteme.

Zweitens muss dringend der notwendige rechtliche Rahmen für die Steuerung von Flexibilitäten mit oder ohne KI-gestützter Prognose geschaffen werden. Hier darf das Augenmerk nicht allein auf Tarifstrukturen und Märkten liegen. Diese stecken bestenfalls in den Kinderschuhen und benötigen definitiv einen klaren, rechtlichen Rahmen, um bei Versuch und Irrtum in deren Entwicklung nicht das erst noch zu gewinnende Vertrauen der Verbraucher gleich wieder zu verspielen. Entscheidend ist vielmehr die Rechtsgrundlage, auf der Messstellen- und Verteilnetzbetreiber die benötigte Infrastruktur aus intelligenten Messsystemen, Gateways und Steuerboxen aufbauen können. Hier fehlt bis heute jede Grundlage, wann, warum und zu welchen Kosten Netzbetreiber digitale Infrastruktur aufbauen und verwenden dürfen. Es besteht dringender Handlungsbedarf für die neue Bundesregierung, die gescheiterte Gesetzesinitiative zur Ausgestaltung des hier relevanten Paragrafen 14a des Energiewirtschaftsgesetzes schnell wiederzubeleben und zum Abschluss zu bringen. Mit einem darauf aufbauenden Gesetz könnten Netzbetreiber endlich in die notwendige, digitale Infrastruktur investieren. Ohne diese Regelung bliebe das Vergraben von Kupferkabeln zum Netzausbau die einzige Option.

— Der Autor hat Frank Borchardt ist im VDE FNN verantwortlich für die Entwicklung der Themenfelder Digitalisierung und Metering. Mit verschiedenen Projektgruppen werden von der Spezifizierung der Komponenten eines intelligenten Messsystems bis zur Ausgestaltung einer sicheren Kommunikationsplattformwerden hier die Grundlagen für das digitale Energiesystem der Zukunft geschaffen. Frank Borchardt ist beinahe 25 Jahre in der Energieversorgung tätig, hat in zahlreichen Projekten und Rollen das Thema Smart Metering mit entwickelt und ist inzwischen „per du“ mit den intelligenten Messsystemen. —

*Anmerkung der Redaktion: Der Artikel ist am 15.12.2021, 9:30 Uhr, nachträglich mit den richtigen Maßeinheiten korrigiert worden. Statt Megawatt sind es Kilowatt.

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