So geht dezentral

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Es wird derzeit viel darüber diskutiert, wie dezentral die Energiewelt der Zukunft wirklich sein wird. Da lohnt sich ein Blick nach Nordhessen. Dort liegt, etwa 30 Kilometer westlich von Kassel, die Stadt Wolfhagen mit rund 13.500 Einwohnern. Im Jahr 2008 hat die Stadt beschlossen, dass sie mit erneuerbaren Energien so viel Energie erzeugen will, wie sie verbraucht. Dieses Jahr hat die Kommune das Ziel erreicht, dank zwölf Megawatt Windmühlen, zehn Megawatt Photovoltaik, privaten Solaranlagen in der Region und einem Biomassekraftwerk.
Bisher ging es nur darum, das Ziel über das ganze Jahr bilanziell zu erreichen. Erzeugung und Verbrauch müssen dazu nicht gleichzeitig stattfinden. Das geht, solange man das große Netz mit viel konventioneller Stromerzeugungskapazität im Hintergrund hat. Dann lässt sich der Strom ja einfach einspeisen und bei Bedarf zurückkaufen. Je mehr Regionen dem Wolfhager Beispiel folgen, umso schwieriger wird das. Will man ein dezentrales Modell, muss man es schaffen, dass der Eigenversorgungsgrad, also die Erzeugung gleichzeitig zum Verbrauch, eine gewisse Größe erreicht.
Jetzt haben die Stadt und ihre Stadtwerke, eine GmbH mit 25 Prozent Beteiligung einer regionalen Energiegenossenschaft, das Ziel ausgerufen, den Eigenversorgungsgrad über das Jahr betrachtet auf 90 Prozent zu steigern. Und zwar „ohne dabei die Wirtschaftlichkeit aus den Augen zu verlieren“, so die Stadtwerke in einem Fachartikel. Das bedeutet, 90 Prozent des Stromes sollen direkt aus der Region kommen, zeitgleich zum Verbrauch.
Eigenversorgungsgrad schon jetzt bei 70 Prozent
Dabei ist das Erstaunliche, dass bereits jetzt der Eigenversorgungsgrad bei gut 70 Prozent und gleichzeitig der Eigenverbrauchsgrad bei 60 Prozent liegt. Solar- und Windstromerzeugung sind, so die Analyse der Stadtwerke, so komplementär, dass dieser hohe Eigenversorgungsgrad erreicht wird und nur etwa 40 Prozent der Erzeugung zu Zeiten anfallen, wenn der Strom in der Region nicht gebraucht wird. Schon das ist ein Ergebnis, das für die Energiewende hoffen lässt.
Die Stadtwerke definieren zwei Aufgaben, die sie nun lösen müssen, um von 70 auf 90 Prozent zu kommen. Wie kann der überschüssige Strom in Phasen der Übererzeugung sinnvoll genutzt werden? Und: Wie können fehlende Strommengen in Phasen der Untererzeugung bereitgestellt werden?
Nächste Schritte
Dazu gibt es mehrere Punkte, an denen die Wolfhager arbeiten wollen: Die Potenziale für eine Lastverschiebung seien sowohl im Haushalt als auch im Bereich der Industrie groß. Um sie zu realisieren, müsse die Stromerzeugung aus erneuerbarer Energie mindestens 24 bis 48 Stunden im Voraus prognostiziert werden können, um Geräte und Maschinen entsprechend einzusetzen oder abzuschalten. Die Stadtwerke Wolfhagen entwickeln derzeit ein Demand-Side-Managementsystem für den Haushaltsbereich. Der Anreiz zur Lastverlagerung soll dabei durch die Einführung zeitvariabler Stromtarife erfolgen, in denen sich der Preis für die Kilowattstunde stündlich ändert, aber immer eine ausreichend lange Zeit im Voraus feststeht.
Speicher ließen sich unter derzeitigen Rahmenbedingungen nicht wirtschaftlich betreiben, so die Stadtwerke. Da sie dennoch zukünftig zur Steigerung des Eigenversorgungsgrades einen wertvollen Beitrag leisten könnten, will die Stadt die Technologien weiter im Auge behalten und prüfen. In Wolfhagen gibt es ein Biomassekraftwerk, das im Besitz der örtlichen Landwirte ist. Bisher wird es noch nicht gezielt bedarfsgerecht eingesetzt. Das soll sich in Zukunft ändern. Das zu erreichen ist keine technische Herausforderung, sondern eine wirtschaftliche. Denn dafür sind Vergütungsmodelle nötig, die es den Landwirten erlauben, das Kraftwerk auch dann wirtschaftlich zu betreiben, wenn es über längere Zeiträume stillsteht, in denen die fluktuierenden Erzeuger den Bedarf allein decken.
Die Wolfhager weisen auch den konventionellen Erzeugungstechnologien ihren Platz zu. Weil das örtliche Blockheizkraftwerk flexibel und mit minimalem zeitlichem Vorlauf eingesetzt werden könne, sei es optimal geeignet, Verbrauchsspitzen abzudecken. Im Jahr käme ein solches Kraftwerk in Wolfhagen aber auf nicht mehr als 800 Betriebsstunden. Um gleichzeitig auch eine sinnvolle Wärmenutzung zu ermöglichen, müssten thermische Speicher entsprechend ausgelegt werden.
Autarkie ist übrigens nicht das Ziel. Diese Feststellung ist den Stadtwerken Wolfhagen wichtig. Sie sind in der Stadtwerke Union Nordhessen vernetzt. Was nicht in Wolfhagen selbst oder nicht von den Stadtwerken allein realisiert werden kann, wollen sie mit den Partnern in der Region umsetzen. Der Stadtwerke-Verbund erlaube es zudem, gemeinsam den Ausbau regionaler Backup-Erzeugungskapazitäten voranzutreiben, insbesondere im Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit.
Fragen für die Zukunft
Welche Schritte in die neue Energiewelt wirklich die besten und richtigen sind, lässt sich noch nicht mit 100-prozentiger Sicherheit sagen. Die Stadtwerke schreiben offen: „Wie sehr sich all diese Instrumente in der Praxis bewähren, wie sie ausgestaltet werden müssen, um optimal zu wirken, muss Gegenstand weiterer Forschungen sein.“ Als eine Frage formulieren sie, wie das Ziel Netzstabilität und Versorgungssicherheit gleichzeitig umgesetzt werden kann mit dem Ziel, ein hohes Maß an fluktuierender Einspeisung zu erreichen. Als eine andere, welchen Einfluss die Steuerung der Nachfrage in Haushalt, Industrie und Gewerbe auf den lokalen Eigenversorgungsgrad hat. Ebenso wollen sie herausbekommen, welche Anreize geeignet sind, um die Last auf der Verbrauchsseite mit der Einspeisung erneuerbarer Energien zu synchronisieren. Etwas übergeordnet steht die Frage, welche Prozesse und Aufgaben sinnvollerweise auf lokaler und regionaler Ebene gesteuert werden und welche von zentralen, überregionalen Instanzen.
Die dezentralen Lösungen mit hohem regionalem Eigenverbrauch, wie sie die Stadt Wolfhagen anstrebt, würden allerdings durch „das aktuelle Strommarktdesign und den marktorientierten überregionalen Stromhandel“ erschwert. Die Wolfhager sind sich aber sicher, dass es nicht reicht, den Blick allein auf diese Rahmenbedingungen zu richten und Deutschland als eine Kupferplatte zu betrachten, auf der Strom ungehindert überallhin fließt. Es sei eben physikalisch sehr relevant, ob erneuerbar erzeugter Strom im räumlichen Zusammenhang direkt verbraucht wird oder ob der virtuelle Käufer einige hundert Kilometer vom Produzenten entfernt liegt. Zumindest wenn das Ziel „eine sichere, preisgünstige, verbraucherfreundliche, effiziente und umweltverträgliche Energieversorgung auf Basis erneuerbarer Energien“ ist.
Die Vorhaben in Wolfhagen weisen jedenfalls weit über die Region hinaus. „Erkenntnisse, die hier gewonnen werden, weisen anderen Kommunen und Regionen den Weg. Lösungen, die hier entwickelt und erprobt werden, sind – in großen Teilen – übertragbar“, schreiben die Stadtwerke. Das liege daran, dass sich ähnliche Lastflüsse und Erzeugungskapazitäten wie in Wolfhagen zukünftig sukzessive in weiten Gebieten Deutschlands einstellen würden, wenn man den Wolfhager Energiemix mit den Szenarien in der Leitstudie des BMU vergleicht. Wolfhagen werde dadurch zur Blaupause für Deutschland.
Zumindest dürften die Ergebnisse ein starkes Argument in der Diskussion darüber geben, wie sinnvoll es ist, grundsätzlich einen hohen regionalen Eigenversorgungsgrad zu erreichen. Viele Studien zu dem Thema, nach denen sich auch die Bundespolitik richtet, kommen nämlich zu einem anderen Schluss. Sie besagen, dass es sinnvoller sei, mit stark ausgebauten Übertragungsnetzen die Fluktuationen der Solar- und Windkraftwerke überregional auszugleichen. Diese Studien betrachten jedoch meist nur sehr eng gefasste Fragestellungen, anders als das sehr umfassende Wolfhager Experiment.

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