Bitte innehalten

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pv magazine: Sie sagen, Mitarbeiter in Unternehmen stehen oft so unter Druck, dass sie keine Zeit mehr haben, innezuhalten und über die großen Linien nachzudenken. Was würden unsere Leser bemerken, wenn sie etwas innehielten?

Zukunftsforscher Lars Thomsen von future matters

Foto: future matters

Lars Thomsen: In den kommenden zehn Jahren wird sich noch mehr verändern, als sich in den letzten zehn Jahren verändert hat. Gesellschaftlich, politisch, energietechnisch und auf Seiten der technologischen Innovation. Innehalten ist wichtig, damit Neugier auf Neues genügend Raum hat. Wir können nur in Ruhe neue Dinge aufnehmen. Wenn Sie noch fünf oder sechs Projekte abzuarbeiten haben, dann haben Sie in der Regel nicht genügend Muße, um sich auf neue Dinge einfach mal einzulassen, eine neue Idee zuzulassen und in Ihrem Kopf weiterzuspinnen. Wenn man nicht ab und zu innehält, läuft man Gefahr, irgendwann das große Bild nicht mehr richtig zu sehen und neue Chancen zu erkennen.

Sie arbeiten als Zukunftsforscher gerne mit den sogenannten Tipping Points, also Kipppunkten. Was ist das?

Ein Tipping Point ist der Punkt, an dem eine neue Technologie, ein neues Geschäftsmodell oder ein neues Paradigma die alte Art und Weise dies zu tun ablöst. Ein Beispiel aus der Vergangenheit: Lange Zeit hatten wir in fast jedem Büro Schreibmaschinen, einfach weil das die effizienteste Form war, Dokumente zu erstellen. Das war auch noch bis in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts so, als Computer schon gehypt wurden und alle gesagt haben: Die kommen! Aber sie waren noch viel zu teuer, die Programme waren kompliziert und wir hatten noch keine richtigen Laserdrucker. Die Schreibmaschinenhersteller haben weiterhin gut Schreibmaschinen verkauft. Und dann kommt dieser Tipping Point, an dem auf einmal ein Computer in Verbindung mit einem Drucker die bessere, günstigere und effizientere Lösung ist als das, was wir vorher hatten.

Kann man solche Tipping Points vorhersagen?

Ja, das geht oft ganz gut, weil man gewisse Entwicklungen oder Dynamiken sieht, wie zum Beispiel das Moorsche Gesetz, Lernkurven oder Skaleneffekte, die den Preisverfall von gewissen Technologien bestimmen. Zudem gilt die einfache Logik, dass, wenn eine neue Technologie ein Problem besser, schneller und günstiger lösen kann, diese die alte Technologie ablösen wird. Wir sehen es ja im Energiesystem.

Sind wir im Energiesystem gerade in dem Tipping Point oder ist der schon vorbei?

Das kommt auf den Breitengrad und die Ressourcenverfügbarkeit erneuerbarer Energie an. In Saudi-Arabien kann man mittlerweile mit ungeförderten Solaranlagen für ungefähr zwei bis drei Cent pro Kilowattstunde den Strom produzieren. Es lohnt sich für die Saudis nicht mehr, ihr eigenes Öl zu verbrennen, um den Strom für die Pumpen auf den Ölfeldern zu produzieren – sie nehmen also mehr und mehr Solarenergie. Also wir sind an dem Tipping Point und sobald wir als Menschheit vielleicht auch die Klugheit haben sollten, endlich eine CO2-Steuer einzuführen, um diejenigen zu belasten, die Klimakosten verursachen, dann ist die Diskussion sowieso vorbei. Dann wird die Kombination „Solar plus Speicher“, vor allem wenn die Speicherpreise noch mal ungefähr 70 Prozent runtergehen, de facto die günstigste Form der Energieerzeugung werden – so gut wie weltweit. Damit rechnen wir in den nächsten sechs Jahren.

Sie analysieren Tipping Points vor allem ökonomisch. Spielen nicht auch gesellschaftliche Faktoren eine Rolle?

Ja. Wir betrachten immer zunächst den ökonomisch-technischen Tipping Point, weil die gesellschaftlichen Faktoren oft nur viel ungenauer zu berechnen sind. Diese Konzentration ist im Sinne der Effizienz durchaus gerechtfertigt. Wenn man etwas günstiger, besser, schneller und komfortabler als vorher machen kann, wird sich das mittelfristig durchsetzen. Niemand wird das Doppelte für eine schlechtere Problemlösung ausgeben. Ich will ein Beispiel aus dem Bereich Elektromobilität geben. Bei Bussen und kommunalen Flotten, etwa städtischen Müllwagen, sind wir jetzt an dem Tipping Point. In ungefähr einem Jahr rechnen wir damit, dass die Batteriepreise und die Systemkomponenten so günstig werden, dass nicht nur der Umweltschutzbeauftragte fordert, Elektrobusse zu kaufen, sondern auch der Controller. Wenn wir Wartung, Diesel, Ölwechsel und Umweltabgaben oder gar mögliche Fahrverbote in Zukunft mit in die Gesamtkostenrechnung einbeziehen, ist der Elektroantrieb in diesem Bereich günstiger.

Kurven, wie sich Preise entwickeln, nutzen ja viele in ihrer Marktanalyse, zum Beispiel bei den Batterien. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass die Entwicklung oft viel schneller geht, als die Experten es einschätzen. Warum?

Das ist eben das Komische an diesen Tipping Points. Bis er erreicht ist, erscheint es vielen relativ zäh und es scheint lange zu dauern. Das hängt auch mit dem „Hype-Cycle“ zusammen: Es wird viel in den Medien berichtet, und es entsteht der Eindruck, morgen bereits ist die Welt anders. Dann kommt die Enttäuschung, und viele verlieren die Geduld oder den Glauben an den Umbruch. Wenn der Tipping Point dann da ist, geht es aber wirklich wahnsinnig schnell. Oft so schnell, wie sich viele vorher nicht vorstellen konnten.

Gerade in unserer Branche hat man oft das Gefühl, dass asiatische Länder Tipping Points viel schneller sehen. Gibt es dafür einen Grund?

Ja, dafür gibt es verschiedene Faktoren. Ein Land, das darauf aus ist, neue Industrien aufzubauen und eine gewisse Weltmachtstellung in neuen Technologien zu erreichen, ist natürlich gut beraten, nicht den klassischen Industrien hinterherzulaufen, sondern auf Tipping Points oder Umbrüche zu setzen und mit disruptiven Strategien zu arbeiten. Chinesische Autohersteller könnten entweder versuchen, den europäischen und etablierten Autoherstellern in der Welt mit Verbrennern hinterherzulaufen – oder sie setzen eben gleich auf die neue Technologie und sind damit dann weiter vorne. China agiert sehr schlau, weil sich die Regierung mit längerfristigen Trends beschäftigt, ganz klare Zehn-Jahres-Pläne hat und dabei eben auch einen sogenannten Cross-Impact einbezieht. Das sind andere Faktoren, wie etwa die Gesundheitskosten, die sich eine Volkwirtschaft durch eine Verminderung der Bronchial- und Lungenkrankheiten beziehungsweise den Ausfall von Mitarbeitern sparen kann, wenn sie auf Elektromobilität umstellt. Damit kommen dann solche recht mutigen und wegweisenden Projekte zustande, wenn zum Beispiel die 15-Millionen-Metropole Shenzhen eine 16.500 Busse umfassende Elektrobusflotte aufbaut. Hier in Deutschland beschließen Bürgermeister dagegen, nur zunächst einen Elektrobus zu kaufen und ihn die nächsten fünf Jahre mal vorsichtig zu testen. So gewinnen wir die Zukunft nicht – weder die Städte noch unsere Nutzfahrzeug-Industrie.

Künstlicher Anbau ist effizienter als Feldanbau. Der Kipppunkt wird erreicht, wenn vertikale Gewächshäuser solar versorgt werden.

Foto: AeroFarms

Welche anderen Tipping Points gibt es noch, die für unsere Branche in den nächsten zehn Jahren relevant werden?

Es gibt einige. Das Thema Gleichstrom wird in immer mehr verschiedene Bereiche von Haushalt und Industrie eindringen – man kann an einigen Stellen sogar von einem Tipping Point sprechen. Es ist auf Dauer nicht sinnvoll, mit unglaublich vielen Wechselrichtern immer wieder zwischen der Gleichstrom- und der Wechselstromwelt hin- und herzuwechseln. Wir werden parallel zu den Wechselstromanschlüssen in den Häusern auch Gleichstromkreise haben – etwa zwischen Solaranlage, stationärem Speicher, Elektroauto und diversen Gleichstromverbrauchern im Haushalt oder Büro. Der Trend in Entwicklungsländern ist, dass ganze Dörfer oder Townships mittlerweile mit Photovoltaikanlagen, Batteriespeichern und Gleichstromanschlüssen auf Basis von USB 3.1 (Power Delivery) ausgestattet werden. Diese leisten bis zu 100 Watt und damit können Sie praktisch alles betreiben; Fernseher, kleine Kühlschränke, LED-Beleuchtung, Computer und die Smartphones. Ich empfehle, sich mit den neuen Gleichstromtechnologien stärker auseinanderzusetzen. Auch Elektromobilität steht weltweit vor dem Tipping Point, da die Autos in der Gesamtkostenbetrachtung günstiger werden als Verbrennerfahrzeuge. Es dauert jetzt keine zehn Jahre mehr, weder beim Personen- noch bei Lastkraftwagen.

Und wenn wir uns Themen ansehen, die auf den ersten Blick nichts mit Solar- und Speicherwirtschaft zu tun haben?

Es gibt einige Entwicklungen, die etwas weiter weg sind, bei denen es am Ende aber trotzdem wieder einen Bezug gibt. Es wird einen Tipping Point beim Thema Service-Robotik geben. Wir werden in den nächsten zehn Jahren an den Punkt kommen, dass man einen multifunktionalen robotischen Helfer für Haushalt und Gewerbe für weniger als 20.000 Euro kaufen kann. Stellen Sie sich vor, Sie könnten dafür einen humanoiden Roboter kaufen, der Treppen steigen kann, Sachen aus dem Auto holen, Müll runterbringen und im Haushalt arbeiten kann. Er kann Menschen helfen, die keine Lust haben, aufzuräumen oder die Spülmaschine ein- und auszuräumen. Gegebenenfalls kann er sogar auf ein Dach klettern, um Module zu verschrauben oder zu reinigen.

Wie kommen Sie auf diesen Preispunkt von 20.000 Euro?

Das ist heute der Preis eines Kompaktwagens. Einen Kompaktwagen können Sie auch für 199 Euro im Monat leasen. Wir gehen davon aus, dass der Preis und Tipping Point ungefähr 2025 erreicht sein wird, das sind übrigens nur rund 400 Wochen von heute. Dieser Markt wird eventuell größer als der Automobilmarkt. Leute werden sich eher einen Roboter als ein neues Auto kaufen, zumal die Autos uns irgendwann automatisch befördern, uns von zu Hause abholen, sich selber laden und uns zum Ziel bringen. Wir zahlen dann nur die Fahrt, aber nicht mehr für einen Neuwagen. Ein weiterer Tipping Point, den wir superspannend finden, ist die Veränderung, wie wir zukünftig Lebensmittel produzieren werden. Wir schätzen, dass wir bis 2030 ungefähr 25 Prozent der produzierten Lebensmittel in der Welt nicht mehr auf Feldern anbauen werden, sondern in sogenannten Vertical Farms, also in vollautomatisierten, mit künstlicher Intelligenz und Robotik ausgestatteten Gewächshochhäusern, die sogar in den Städten und in völlig unwirtlichen Gebieten stehen werden, etwa in der Wüste. Derzeit werden 28 Projekte auf der Welt gebaut, unter anderem in Abu Dhabi und in den Innenstädten von mehreren chinesischen Millionenmetropolen. Das ist billiger und die Qualität und die saisonale Verfügbarkeit sind besser als beim Feldanbau.

Was muss passieren, damit dieser Tipping Point erreicht wird?

Die vertikalen Farmen müssen Solarenergie versorgt werden. Die Stockwerke sind zum Teil nur 85 Zentimeter hoch und werden künstlich mit LEDs beleuchtet. Wir werden diese Maschinen nur mit Solarenergie betreiben können. Für eine solche Solarfarm, die in der Innenstadt von, sagen wir mal, Peking läuft, werden wir dann einige Felder mit Photovoltaik ausstatten müssen, um die notwendige Energie dafür zu erzeugen.

Sehen Sie das auch für Deutschland und Europa?

Ja, das ist ein weltweiter Trend. Wir haben mittlerweile einen Klimawandel, den sogar Versicherer als so schlimm einschätzen, dass wir Ernteausfälle nicht mehr versichern können.

Ich will gern noch einmal auf den Service-Roboter zurückkommen, der vielleicht Solarmodule montieren könnte. Viele Installateure werden sagen, der Zukunftsforscher muss erst mal auf die Dächer kommen und sehen, wie wenig Routine das ist, jedes Dach ist anders, das eine hat hier einen Schornstein, das andere da eine Verschattung.

Die Entwicklung von hochflexiblen und mit viel künstlicher Intelligenz ausgestatteten Robotern beginnt erst jetzt. Das ist tatsächlich eine Dimension, die man sich nur schwer vorstellen kann. Aber mittels Mustererkennung und Deep Learning sind viele Maschinen schon heute in der Lage, Dinge besser zu können als Menschen. Denken Sie an Schachcomputer, zahlreiche Produktionsprozesse und schon bald auch selbstfahrende Autos.

Wie arbeitet ein Zukunftsforscher?

Ein Zukunftsforscher braucht mehrere Eigenschaften: zum einen eine unstillbare Neugier, sich täglich mit Dingen zu beschäftigen, die man am Tag zuvor noch nicht kannte. Zum anderen sollte man Naturwissenschaften, wirtschaftliche Logiken und Zusammenhänge und Märkte gut verstehen und verfolgen können. Und dann braucht es in der Tat auch etwas Muße, um sich mit dem Neuem so zu beschäftigen, dass man mit etwas Phantasie und viel Logik Szenarien für die Zukunft zeichnen kann. Am besten macht man das in einem gut funktionierendem Team, welches sich ergänzt und produktiv in Frage stellt. Mit unseren elf Partnern bei future matters ergeben sich dabei rund 400 Interviews pro Jahr – und dann hat man schon einen recht guten Einblick in das, was auf uns zukommt und die Logiken dahinter.

Wie gehen Sie mit Skeptikern um und wägen deren Einwände ab?

Wir unterhalten uns natürlich bevorzugt mit den Menschen, die diese neuen Technologien entwickeln und dadurch eine andere Perspektive haben. Zweifler sind in der Regel die, welche zu wenig Einblick in Daten, Zahlen und Fakten haben oder generell zukunftskritisch eingestellt sind. Aber es hilft, auch deren Bedenken zu hören und zu verstehen. Betrachtet man aber die Geschichte der Menschheit, so ist diese geprägt worden von Innovationen und den daraus entstehenden Möglichkeiten und Veränderungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Stillstand hat nie lange gedauert und viele der Dinge, die heute ein normaler Teil unseres Alltags sind, waren irgendwann mal eine undenkbare Utopie für die meisten.

Gibt es Entwicklungen, die Sie trotz Ihrer Gespräche mit deren Protagonisten eher skeptisch sehen und die sich nach Ihrer Einschätzung nicht durchsetzen werden?

Ja, zum Beispiel die derzeit wieder aufkeimende Euphorie um das Thema Wasserstoff. Ich gebe zu, dass ich auch viele Jahre der Meinung war, dass sich Wasserstoff zu einer tragenden Säule des Energiesystems entwickeln würde. Allerdings scheint die elektrochemische Speicherung von Energie in Batterien über lange Zeit günstiger und effizienter zu sein als die Elektrolyse von Wasserstoff und Rückwandlung in der Brennstoffzelle. Die Effizienzkette von der Erzeugung bis zur endgültigen Verwendung ist zum Beispiel beim Einsatz in Fahrzeugen etwa um den Faktor drei geringer als bei batterieelektrischen Lösungen. Solange also der Strom nicht umsonst erzeugbar ist, macht es keinen ökonomischen Sinn, diese Technologie in den meisten landmobilen Anwendungen einzusetzen. Hinzu kommen noch deutlich höhere Kosten und Komplexität für die notwendige Infrastruktur im Vergleich zum bestehenden Stromnetz. Mittelfristig ist Wasserstoff im Flugverkehr und in Schiffen denkbar und auch im Power-to-Gas-Szenario mit Offshore-Wind und der Nutzung der bestehenden Erdgasnetze.

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